Vierhänder

Ich arbeite an einer neuen Stelle. Die Schule hat einen hohen Sozialindex, also ein eher aufwändiges Miteinander. In meinem ersten Wahlfach Werken für eine
3. Sek erscheint nur die Hälfte der Gruppe. So sitzen wir zu fünft um einen Tisch, um mit ein wenig Smalltalk die Wartezeit zu verkürzen. Einer der vier Jungen, wie die anderen drei kein Lehrerschreck, eher charmant, fragt, wie es meinen Kühen gehe und sagt, ich sehe gar nicht so alt aus.

 

Ich bin zuerst perplex, obwohl ich ja Ziegen, und keine Kühe habe, dann verstehe ich: Er hat tatsächlich gelesen, was über mich als Neuling in der Schulhauszeitung stand, und es sich sogar gemerkt. Irgendwann zeigt ein anderer auf mein Handgelenk und fragt, woher die Narbe stamme: «Tja, ich hab mehrmals das Handgelenk gebrochen», gebe ich meine Schauergeschichte zum Besten, «und dann war die Sehne futsch. Man musste sie neu verdrahten. Und jetzt habe ich zwei linke Hände». Nun ist er dran und prahlt mit seiner Narbe über die ganze Kante seiner rechten Hand. «Autsch», sage ich, «wie gibts denn sowas?» – und erwarte eine krude Geschichte über einen Testosteron-induzierten Skaterunfall. Aber er sagt mit einem Grinsen, er hätte einfach was kaputtschlagen wollen. «Warum denn das?», frage ich, und er, schulterzuckend: «Einfach blöd tun und Spass haben.»

Die Gruppe bricht in Gelächter aus: Ja, sie mussten einfach was kaputt schlagen, und er war zu blöd, und es war echt spassig. Sie wollten nämlich einen Handtuchspender zerdeppern, aber der ging einfach nicht zu Bruch. Da packte der eine alle Wut zusammen, um es dem Kasten mit einem Mordsschlag endgültig zu zeigen. «Aber er ging nicht kaputt,» kräht ein anderer exaltiert, «dafür seine Hand, und das hätten Sie sehen müssen, wie blöd das aussah, wie der Knochen hinter dem Kleinfinger rausguckte.» Der Vierte, dem Lachtod nahe, quiekt: «Und er hat geweint wie ein Baby! Dann haben wir das Teil halt verkratzt, aber es war nicht dasselbe.»

 

«Bekamt ihr keine Strafe?», wage ich die Stimme der Vernunft zu erheben. «Nö, hat ja niemand gemerkt, weil nichts richtig kaputt war.». «Und niemand fragte wegen der Hand?» «Och, wir erzählten halt etwas von einem Skaterunfall.» – «Oh je» sage ich», und um vielleicht etwas Selbstreflexion anzustossen: «Die männliche Jugend lebt wirklich gefährlich». «Schon, aber das ist noch gar nichts im Vergleich mit dem anderen Jungen!», johlen und glucksen die vier.

 

«Der wollte vom Spielplatz-Turm springen», sagt einer, «und ich habe ihn im Flug gefangen. Hab einfach seinen Fuss festgehalten, und er hing so über dem Geländer, etwa drei Meter über dem Boden. So zuviel, Mann! Da hat er so gejammert und gebettelt, ich solle loslassen, dass ich halt losgelassen habe. Und er fiel voll auf beide Handgelenke, so nach innen rumgeknickt waren die Hände und beide Gelenke gebrochen – So ist er nach Hause gegangen:» (Er zeigt eine Art Zombie-Geste mit ausgestreckten Armen und nach unten hängenden Händen) «Wir haben uns fast bepisst vor Lachen!» «Fühltest du dich nicht schuldig?», versuche ich nochmals eine moralische Einordnung «Ich? Sicher nicht. Er wollte es ja so!».

 

«Okee. Hm. Ich würde mir diesen Zeitvertrieb abgewöhnen. Das ist ja ungesund», ist alles, was mir dazu noch einfällt. Dann beginnen wir ohne die Abwesenden mit dem Unterricht, und verbringen einen richtig kooperativen Nachmittag zum Thema Möbel.
Ina Müller

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