Viele Postkarten schreiben

«Schreiben Sie den eidgenössischen ParlamentarierInnen eine Postkarte aus den Ferien und fordern Sie sie darin auf, endlich vorwärts zu machen», riet Kathrin Bertschy, selber Nationalrätin, dem versammelten Zurich-Pride-Publikum am Samstagnachmittag auf der Kasernenwiese. Ihr Vorstoss «Ehe für alle» liegt seit fünf Jahren zur Bearbeitung in der politischen Pipeline, die verbleibende Zeit für eine Umsetzung schätzt sie auf zwischen «zwei und sieben Jahre». Die Postanschriften aller gewählten VolksvertreterInnen finden sich auf www.parl.ch und «Druck machen», wie sie das nannte, können auch Nichtstimmberechtigte. Seit Montag wissen wir: Es werden zwei Postkarten werden müssen. Denn die Einreichung von Abstimmungsbeschwerden der CVP im Nachtrag ihrer nur knapp verlorenen Abstimmung «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» wegen «skandalöser Fehlinformation» bringt auch die Drohung, die Definition von Ehe als Verbindung von Mann und Frau in die Bundesverfassung festzuschreiben, potenziell wieder aufs Tapet. Gemäss den Einschätzungen der grossen Zeitungen, ist der bundesrätliche Reformvorschlag, der die Heiratsstrafe in jedem Einzelfall beseitigen soll, in den eidgenössischen Räten «höchst umstritten». Also wird es auf einer zweiten Postkarte sinngemäss heissen müssen: Bitte regeln Sie das Problem der sogenannten Heiratsstrafe auf Gesetzesebene und verhindern Sie damit den Einzug einer unzeitgemässen Ehedefinition in die Verfassung. Und machen Sie auch damit vorwärts. Denn eine Abstimmung gegen den finanziellen Eigennutz von 46 Prozent der 1,5 Millionen Ehepaare (NZZ) in der Schweiz mit dem Argument des in der Verfassung verankerten Grundsatzes der rechtlichen Gleichstellung aller gewinnen zu können, ist erst recht «höchst unsicher». Voraussichtlich wird das Bundesgericht einen Entscheid fällen müssen, was aber noch lange kein Grund ist, bis dahin tatenlos zu bleiben. Es reicht, wenn die Ständeratskommission beschlossen hat, abzuwarten…

 

Was Alecs Recher von Transgender Network Schweiz (unter vielem anderen auch) meinte, als er sagte mit dem diesjährigen Pride-Motto «same LOVE = same RIGHTS» wäre vielleicht nicht ausreichend weit gedacht worden, zeigte sich auch andernorts. Jessica Zuber von «alliance F» erinnerte daran, dass der jahrzehntelange Kampf für die restlose Gleichstellung der Frau im Kern dasselbe Recht auf Selbstbestimmung für alle meint, und ein symbolisches «Standesamt der Stadt Zürich» des Vereins selbstbestimmung.ch für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung auf dem Festareal verdeutlichte, wie weitreichend die Verweigerung der rechtlichen Gleichstellung aller in sämtlichen Belangen auch 2018 noch geht. Es handelt sich um – mit Ausnahme der Frauen – Minderheitenrechte, deren bisherige Möglichkeiten einer höchstinstanzlichen Durchsetzung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von einer Volksinitiative beschnitten werden sollen, die ausgerechnet auf dem Mist eines schwulen SVP-Nationalrats gewachsen ist. Sämtliche namhaften LGBT+-Institutionen verteilten einen Flyer, der zur Ablehnung der «Selbstbestimmungsinitiative», die in Tat und Wahrheit eine «Selbstbeschneidungsinitative» ist (www.sbi-nein.ch), aufruft. Denn beispielsweise nur schon das Recht, für die eigenen Rechte zu demonstrieren und dabei gegen Angriffe geschützt werden zu müssen, beruht auf der Europäischen Menschenrechtskonvention und einem Urteil ihres Gerichts. Also bald kein farbiger, lebensfroher Umzug mehr durch die Stadt Zürich, in dem PdA und CS, Juso und Google, CVP und IG BDSM, der queere Fussballfans und queere Gläubige, Regenbogenfamilien und Transidente Menschen, PolizistInnen und Darkroomhuschen miteinander für im Kern dasselbe demonstrieren? Das Recht auf gleiche Rechte.

 

Die (Omni-)Präsenz der Multis an der Pride gibt schon seit mehreren Jahren zu reden. Und fast konnte man glauben, die Autonomen hätten nach den letztjährigen Farbanschlägen gegen prominente Sozis begriffen, dass ein konstruktives Mitmarschieren und den Forderungen so Ausdruck zu verleihen, der vielversprechendere Weg wäre. Aber wers unbedingt auf eine Verhaftung anlegt, weiss auch, wie eine solche provoziert werden kann. Es gehört just zu den unbedingt zu bewahrenden Rechten der Demonstrierenden, von der Polizei gegen Angriffe aller Art geschützt zu werden, und sei die Motivation für tätliche Übergriffe in der Theorie noch so hehr und die Präsenz des Attackierten noch so durchsichtig heuchlerisch verlogen. Florian Vock äusserte die Aufforderung – derzeit leider vermutlich noch ein ziemlich frommer Wunsch – gegenüber den Anwesenden FirmenvertreterInnen, sie sollten sich nicht nur darüber freuen, ihr Firmenemblem mittragen zu dürfen, sondern sich im Berufsalltag genauso in die Geschäftspraktiken ihrer Arbeitgeber einmischen und gegen jedwelche Drecksgeschäfte intervenieren. Wer an die Macht des Wortes und die Kraft einer Zwanzigtausendschaft von Demonstrierenden glaubt, lässt sich aber von den herrschenden Umständen nicht davon abbringen und fordert das vermeintlich Unmögliche trotzdem. Denn nicht nur die Multis werden immer zahlreicher, sondern auch die Protestnoten von nicht organisierten Demoteilnehmenden (siehe Bilderseite 3). Das kreative Potenzial geht soweit, dass regelrecht subversive Sinnumkehrflyer kursierten, die im Namen der Wohlstandswahrung Gutscheine für Freibier darstellten oder gar mitsamt Bankenemblem versprachen, bald als letzten Anlageschrei ein Vereinskonto für Polyamouröse anbieten zu können.

 

Auch wenns noch altbackener klingt, als Florian Vocks Wunsch fromm ist, die grenzenlose Solidarisierung – freundlich im Ton, hart in der Sache – macht aus einer Vielzahl von Minderheiten eine politische Kraft, die Veränderungen des Istzustandes ermöglicht. Dass das mitunter Jahre dauert und in Anbetracht des eigenen Alterungsprozesses zwischenzeitlich schier sinnlos erscheint, ist genausowenig Grund, tatenlos zu bleiben. Schliesslich sind wir alles echte Menschen und uns darin gleich, egal, wie anders wir sind. Oder um wieder Florian Vock zu zitieren: «Anders zu sein, ist unser Privileg und wir müssen ganz schön viel aushalten dafür. (…) Aber wir dürfen nicht reproduzieren, wozu uns die Gesellschaft drängt: Ausgrenzung.» Also auf zum Postkartenschreiben. Egal woher und wie hübsch sie ausschauen: Viele sollen es sein!

 

Thierry Frochaux

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