Verzweifelter Frohsinn

Dominik Flaschka inszeniert 50 Jahre nach der Uraufführung das Musical «Cabaret» und braucht es nicht einmal brachial zu aktualisieren, damit einen trotz fulminanter Show das Grauen packt.

 

 

Noch viel mehr als die fahnenschwingenden Demonstrierenden gegen den sich formierenden Nationalsozialismus fährt einem der Schlussapplaus im Gleichtakt unter die Haut. Der versinnbildlicht, was Fräulein Schneider (Sabine Martin) zuvor gesungen hatte: «Wie geht’s weiter, wenn man zerbricht / zur Flucht weder fähig noch bereit / hört’s denn niemand von Euch / alle neben uns gehen schon im Schritt.» Die ärmliche Zimmervermieterin, als auch um ihre späte Liebe zum jüdischen Krämer Herr Schulz (Helmut Vogel) betrogene, hat keinerlei Hoffnung. Und so steht sie hinter ihrem Dochnicht-Bräutigam wie ein Häufchen Elend, als dieser mit einem grossen Stein in der Hand, der sein Schaufenster zerstörte, in Richtung Publikum fragt: «Hat denn niemand etwas gesehen? Jemand muss doch etwas gesehen haben!» Selber ist er als deutscher Jude bis zum Schluss der Überzeugung, die aufmarschierende neue Macht würde sein Deutschsein über das Jüdischsein stellen und ihm schon nichts passieren.

Der amerikanische Schriftsteller Cliff Bradshow (Kenneth Huber) gehört zu den sich lauthals und auch körperlich dagegen Auflehnenden, hat indes die Möglichkeit einer Abreise, auch wenn es ihn seine Existenzgrundlage kostet. Beim Conférencier (Michael von der Heide) ist der Widerstand seiner Rolle gemäss auf der Bühne zwar laut und schrill, doch auch seine Brandreden für eine Vielfalt des Lebens und des Liebens sind letztlich professionelle Show. Auch der mehrfache Ausruf, als die Bekleidung der KitKat-TänzerInnen längst Reitstiefel und ihr Tanz sichtliche Parallelen zum militärischen Marschieren erhalten haben, «ich bis doch, eues Micheli», untermauert seine tatsächliche Ohnmacht gegenüber der sich installierenden Diktatur. Er braucht seine Stelle und die Liebeswogen des Publikumszuspruchs wie die Luft zum atmen und ist dafür bereit, sich zuletzt sehr weit zu verbiegen, obschon er die Gefahren erahnt, die da auf die Gesellschaft zukommen.

Genau hier liegt die Bruchstelle zur tragischen Figur der Clubsängerin Sally Bowles (Fabienne Louves), die sich der Realität verweigert. Als leichtes Mädchen mit Hang zum Gin schlägt sie die Bitten ihrer derzeitigen Liebe Cliff Bradshow zur Mitmigration aus und versetzt sogar ihr teuerstes Gut, einen Pelz, um sein Kind nicht einer ungewissen Zukunft auszusetzen. Diese späte Abtreibung aber als ein Gegenteil einer egoistischen Tat zu lesen, wäre verfehlt. Sie ist ein sprichwörtlich junges Ding, dem Tingeltangel verfallen und nicht gewillt, ihr liederliches Leben zu ändern. Sie verschliesst die Augen mit den Worten, «was geht uns die Politik an», sehr aktiv und wähnt sich im – wenngleich absehbar desaströs endenden – einzig bekannten Fahrwasser in Sicherheit. Das Angebot einer unbekannten Zukunft als braves Hausmütterchen an der Seite von Cliff Bradshow versetzt sie entgegen der realen Lebensbedrohung in Angstzustände, für die sie keine Handhabe kennt. Der feurige Nazi Ernst Ludwig (Eric Hättenschwiler), die unbedacht redselige Matrosenbraut Fräulein Kost (Anikó Donáth) wiewohl der für den Umschwung symbolisch instrumentalisierte, singende Knabe sind der Handlung dienliche, aber einfache Figuren.

Was unter der musikalischen Leitung von Hans Ueli Schläpfer (mit fünfköpfigem Orchester) als fulminante Unterhaltungsshow beginnt, verdüstert sich zusehends und legt die vielen Bruchstellen auch in der Gesamtstimmung sichtbar offen. Eine rundum geglückte Inszenierung, auch weil man den Saal nicht unbetrübt verlässt.

«Cabaret», bis 15. Januar 2017, Bernhard Theater, Zürich. www.cabaret-musical.ch

 

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