Vergessene Schweizer Inhaftierte in deutschen KZ

Ende Oktober erscheint die erste umfassende Studie zu Schweizerinnen und Schweizern, welche in nationalsozialistische Konzentrationslager deportiert wurden – für deren Befreiung die Schweiz nur sehr wenig unternahm.

 

Sibylle Elam

 

Die Autoren Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid haben in einer umfangreichen Recherche die Geschichte der «Schweizer KZ-Häftlinge, Vergessene Opfer des Dritten Reiches» in Archiven und Datenbanken zusammengetragen. Hilfreich dabei war das Archiv des Walliser Briefträgers Laurent Favre, der ab 1972 begann, Informationen dazu zu sammeln. Es sind 391 Männer, Frauen, Kinder und Jugendliche, die zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung Schweizer Staatsbürger waren oder früher die Schweizer Staatsbürgerschaft besessen hatten. Ihre Namen erscheinen als Memorial im Buch. 201 von ihnen starben im Lager oder kurz nach der Befreiung. Auf einer zweiten Liste, die im Archiv für Zeitgeschichte einsehbar ist, sind 328 Opfer nationalsozialistischer Verfolgung aufgeführt, die in der Schweiz geboren wurden, hier aufwuchsen, die Schulen besuchten, aber nie Schweizer Staatsbürger waren, 255 haben die Haft nicht überlebt.

 

Die drei Autoren haben viele der Einzelschicksale recherchiert. Es sind unendlich traurige Geschichten, und man möchte sich (einmal mehr) die Haare raufen vor Verzweiflung und Entsetzen darüber, dass die offizielle Schweiz nicht mehr unternommen hat, um Menschen aus den Gefängnissen und den Konzentrationslagern des nationalsozialistischen Deutschlands zu retten. Ein Viertel der Schweizer KZ-Häftlinge waren Jüdinnen und Juden, 60 Frauen und 36 Männer. Andere schweizerische Staatsangehörige wurden verhaftet, weil sie Regimegegner waren, ihnen nachrichtendienstliche Tätigkeit vorgeworfen wurde, Beihilfe zur Flucht, kommunistische Umtriebe oder illegaler Grenzübertritt. Zu den Opfern gehörten auch Homosexuelle, Roma und Sinti, geistig Behinderte oder Zeugen Jehovas.

 

Zum Beispiel Adhémar Wyler

Eines der Opfer war Adhémar Wyler, ein Schweizer jüdischer Herkunft, der im Elsass eine Fabrik für Radioapparate betrieb. Er wurde im April 1942 wegen «Spionageverdachts» verhaftet, weil er unerlaubt von der französischen Süd- in die Nordzone reiste. Er wurde im Juli 1943 nach Auschwitz deportiert. Die Hälfte seiner Mithäftlinge im Transport – fast alles Frauen – wurde bei der Ankunft sofort in den Gastod geschickt, er wurde einem Arbeitskommando zugeteilt. Die Mehrzahl seiner Mithäftlinge starb innert weniger Wochen an Kälte, Krankheit, Misshandlungen. Wyler blieb bis zur Räumung des Lagers im Januar 1945 in Auschwitz. Ihm gelang während eines der Todesmärsche die Flucht.

Was hat die Schweiz unternommen, um Wyler zu retten? Er war mehrmals auf Listen für den Austausch mit deutschen Gefangenen aufgeführt .Doch wurden die Anstrengungen seitens der Schweiz immer wieder fallen gelassen. So sollte «die Wohltat des Austausches» nur denen zugute kommen, die sich nichts zuschulden hatten kommen lassen, das auch in der Schweiz verfolgt würde – also zum Beispiel nachrichtendienstliche Tätigkeit. Ein anderes und gegenteiliges Argument war, dass er unschuldig sei, und deshalb die Schweiz die Freilassung ohne Gegenleistung verlangen könne.

Nach fast drei Jahren in Auschwitz und unendlichem Leiden kehrte Adhémar Wyler im Mai 1945 nach Frankreich zurück. Von Frankreich erhielt er umgerechnet 8250 Franken als «Wiedergutmachung». Wyler sprach auch in Bern zweimal vor, er wollte eine Entschädigung, weil sich die Schweiz nur wenig für ihn eingesetzt hatte. Einmal hatte der zuständige Beamte keine Zeit, das andere Mal war er in den Ferien. Ein Treffen mit Bundesrat Petitpierre wurde Wyler verweigert. «In den folgenden Wochen schrieb Wyler mehrmals an das EPD und bat um Unterstützung. Er wolle seine Arbeit wieder aufnehmen, doch sein psychischer Zustand lasse dies nicht zu. Dem zuständigen Beamten wurden die Schreiben zusehends unangenehm. Am Rand einer Seite notierte er: ‹Ich weiss nicht, ob dem Departementschef zugemutet werden darf, diese weitere lange Notiz über Adhémar Wyler zu lesen›. Dann plötzlich stoppte die Korrespondenz, Adhémar Wyler hatte sich am 10. September 1946 in Brüssel das Leben genommen.»

 

Was unternahm die Schweiz für die Opfer?

Im Buch haben die Autoren zum einen die Geschichte der Verfolgung aufgearbeitet und sind zum andern der Frage nachgegangen, weshalb nicht mehr zugunsten der Opfer getan wurde. In einem zweiten Teil erzählen sie in zehn Porträts das Schicksal von schweizerischen Opfern ganz unterschiedlicher Herkunft, so einer Bauernfamilie, welche die österreichischen Regimegegner unterstützte, ein prominenter jüdischer Maler aus Triest, eine Frau,  der «liederlicher Lebenswandel» vorgeworfen wurde, eine Zeugin Jehovas, Kleinkriminelle oder ein Jugendlicher, der an einem Morgen in Frankreich zusammen mit Kollegen per Fahrrad zu einem Sportwettkampf unterwegs war und nicht wusste, dass eine Ausgangssperre bestand.

Weshalb aber wurde seitens der offiziellen Schweiz so wenig unternommen, um ihre Staatsbürgerinnen und -bürger durch direkte Interventionen oder Austausch mit deutschen Gefangenen zu retten? Vorbehalte gab es gegen die Rückführung von Sozialisten und Kommunisten. Die Schweiz war auch nicht erpicht, «Asoziale» und geistig Behinderte zurückzunehmen, die voraussichtlich den Gemeinden finanziell zur Last fallen würden. Seltsam mutet auch das Argument gegen den Austausch von sogenannten Schutzhäftlingen (also Regimegegnern) an, diese könnten nach ihrer Freilassung wieder den Nationalsozialismus bekämpfen. Der Schweizer Melker Franz Bösch zum Beispiel wurde nach dem Aufstieg Hitlers verhaftet, ihm wurde nichts Konkretes vorgeworfen, ausser dass er der Kommunistischen Partei nahe stand. Der Fall erregte in der Schweiz grosse Aufmerksamkeit, und Bösch wurde schliesslich im Rahmen einer Weihnachtsamnestie entlassen. «Die Schweizer Behörden waren zufrieden, weil der dem ‹Vaterland entfremdete› Kommunist in Deutschland blieb» – so die Autoren.

Gegen die Befreiung von Jüdinnen und Juden stand auch einfach herkömmlicher Antisemitismus. Sie wurden nicht wie gleichberechtigte Schweizer Bürgerinnen und Bürger behandelt. Die Schweiz hatte zum Beispiel die Möglichkeit, jüdischen Geschäftsleuten, die vom Boykott ihrer Geschäfte betroffen waren, einen Schutzbrief auszustellen. 1935 verweigerte Pierre Bonna, der neue Chef des Abteilung für Auswärtiges im EPD, einem jüdischen Kaufmann, den Schutzbrief mit dem Argument: «Die Gesandtschaft darf nicht zum Nachteil aller übrigen schutzwürdigen Schweizer ihren Kredit aufs Spiel setzen zugunsten von Elementen, die durch ihr eigenes Verschulden oder durch unschweizerisches, herausforderndes Verhalten selbst Anlass zu den ihnen erwachsenden Schwierigkeiten geben. Es muss auch der Eindruck vermieden werden, dass die Schweiz sich in besonderem Masse, weit mehr als andere Länder, als Beschützerin der Juden gegenüber dem Nationalsozialismus aufspiele.»

 

Was war bekannt?

Was war in der Schweiz über die Zustände in deutschen Lagern bekannt? In den Jahren vor dem Krieg sassen viele Schweizer Medien der deutschen Propaganda auf. Die Schweizer Illustrierte zum Beispiel zeigte 1933 Bilder aus dem KZ Oranienburg, wo die Inhaftierten friedlich arbeiten, musizieren, Sport treiben und gut genährt sind – es ist ein Bild des KZ als Erziehungslager für ideologisch Fehlgeleitete. Auch das IKRK liess sich bei mehreren inszenierten Besuchen selbst nach den Novemberpogromen 1938 täuschen und stellte die anständige Behandlung der Gefangenen in den KZ fest. Doch es gab auch andere Informationen in linken und US-amerikanischen Medien. Und der deutsche Schauspieler Wolfgang Langhoff flüchtete in die Schweiz und veröffentlichte 1935 seinen Erfahrungsbericht aus dem KZ, «Die Moorsoldaten» – ein Buch, das breit und international rezipiert wurde.

Der grosse Ausbau der KZ begann erst mit Kriegsbeginn. Der Bundesrat beschäftigte sich vor allem mit der politischen und militärischen Situation, mit der Frage, ob die Deutschen einmarschieren würden. Die KZ waren aus schweizerischer Sicht eine innerdeutsche Angelegenheit. Die Zahl der schweizerischen Gefangenen und Deportierten stieg erst mit der Besetzung von Frankreich, den Beneluxländern und der Niederlande. Doch nach und nach wurden auch in der Schweiz Meldungen publiziert, die nicht mehr als «Greuelpropaganda» abgetan werden konnten, auch wenn die Schweizer Presse – auch auf Betreiben der Schweizerischen Gesandtschaft in Berlin hin – immer wieder zu Zurückhaltung aufgefordert wurde. Ab Herbst 1942 konnte auch der Bundesrat das Ausmass der Verfolgung nicht mehr ignorieren, ab 1943 gab es in der schweizerischen Presse regelmässig Berichte über die Ermordungen. Der Bundesrat – so das Fazit der Buchautoren – hat die Frage von schweizerischen Inhaftierten in den KZ nicht einmal thematisiert.

 

Frölicher, der nazifreundliche Gesandte

Der unbeliebte Paul Dinichert wurde 1938 als Leiter der Schweizerischen Gesandtschaft in Berlin abgesetzt und durch den deutschfreundlichen Hans Frölicher ersetzt. Frölichers Hauptanliegen war, die deutsche Führung nicht zu verärgern – die Schweizer KZ Häftlinge interessierten ihn nicht wirklich. Wenn die Gesandtschaft den Auftrag erhielt, sich nach einem Deportierten oder Gefangenen zu erkundigen, hielt sie sich strikt an den Dienstweg über das Auswärtige Amt in Berlin, begnügte sich mit der Antwort, dass der Aufenthaltsort einer gesuchten Person nicht bekannt sei und liess keine eigenen Ermittlungen anstellen – auch nicht in Fällen, wo durchaus Chancen bestanden hätten. Anzumerken bleibt aber auch, dass es in vielen Ländern schweizerische Vertretungen gab, die ihr Möglichstes unternahmen, um ihren  StaatsbürgerInnen zu Hilfe zu kommen. Oft aber scheiterten die Anstrengungen an den  Ressourcen oder an mangelnder Unterstützung.

Die Autoren kommen zum Schluss, dass die Schweiz Dutzende Ermordete hätte retten können, wenn sie sich mutiger für sie eingesetzt hätte. So verliefen die Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch oft im Sand, zum Beispiel weil die Schweiz der Meinung war, sie könne nicht verurteilte Deutsche gegen unrechtmässig verhaftete Schweizerinnen oder Schweizer austauschen. Es ist ja auch nicht so, dass die Schweiz kein Pfand gegen Deutschland in der Hand gehabt hätte. So war sie wegen des Alpentransits, der Produktion kriegswichtiger Güter und der Beschaffung von Devisen für Deutschland auch unentbehrlich.

 

Albert Mülli, ein Zürcher Sozialdemokrat

Eines der Einzelschicksale soll hier noch besonders Erwähnung finden, das des Zürcher Sozialdemokraten Albert Mülli. Der junge, arbeitslose Sanitärmonteur wurde im November 1938 im Wiener Hauptbahnhof von der Gestapo verhaftet – er trug einen Koffer voll Flugschriften der KPÖ zur Befreiung Österreichs bei sich. Mülli sass zwei Jahre ohne Anklage in Haft. Für den Prozess stellte ihm das schweizerische Generalkonsulat einen Nazi als Anwalt zur Verfügung. In der Folge war die Schweiz befremdet, dass Mülli auch nach der Verbüssung seiner Strafe im KZ Dachau festgehalten wurde und intervenierte beim Auswärtigen Amt. Dieses antwortet, Mülli müsse in Schutzhaft bleiben, weil die Gefahr bestehe, dass er sich nach der Entlassung «im kommunistischen Sinn zum Nachteil des Reiches betätigen würde». Müllis Anwalt wollte über einen Gefangenenaustausch verhandeln, ein Problem für Bern: «Es liegt uns fern, uns für einen Strafgefangenen besonders einzusetzen, dessen kommunistische Tätigkeit auch in der Schweiz gesetzeswidrig gewesen wäre», erklärte Pierre Bonna vom EPD im Oktober 1942, man wolle Mülli aber nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Bis Kriegsende gab es drei «laue diplomatische Noten ans deutsche Aussenministerium», man möge Mülli in die Schweiz ausschaffen.

Mülli hat relatives Glück. Er arbeitet im KZ Dachau als Sanitär, was ihn vor dem Transport in den Tod bewahrte. Bei seiner Rückkehr hatte er anfänglich Mühe, sich in der Schweiz zurechtzufinden. Er kam zuerst in einer jüdischen Heizungsfirma unter, später arbeitet er für die VBZ, dann als Schulwart. Von 1963 – 1967 war Mülli für die SP Mitglied des Zürcher Kantonsrats. In Österreich wurde er als Kämpfer gegen den Nationalsozialismus geehrt, in der Schweiz erhielt er eine Entschädigung von 40 000 Franken. Dass ihn der Schweizer Nachrichtendienst auch nach dem Krieg bespitzelte, enthüllte später seine Fiche. Viele Angaben darin stimmten nicht,  und die Namen der Informanten blieben geschwärzt.

 

Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmid, Mitarbeit: Laurent Favre: Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs. NZZ Libro/Schwabe Verlagsgruppe 2019, ca. 300 S., 48 Franken.

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