«Unsere Hilfe ist auch eine Investition in unsere Zukunft»

2851 Flüchtlinge leben zurzeit in Zürich. Darüber, was die Stadt bereits für sie tut und welches die nächsten Schritte sind, geben Stadtpräsidentin Corine Mauch und Sozialvorsteher Raphael Golta im Gespräch mit Nicole Soland Auskunft.

 

Als Sie beide zusammen mit Stadtrat Gerold Lauber am letzten Montag an einer Medienkonferenz darüber informierten, dass das städtische Aktionsprogramm für Flüchtlinge «auf Kurs» sei, erzählten Sie, Corine Mauch, auch von einer Reise, die Sie zum Papst führte: Wo ist da der Zusammenhang mit der Zürcher Flüchtlingspolitik?

 

Corine Mauch: Auf Einladung von Papst Franziskus fand am 9. und 10. Dezember 2016 an der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften in Rom eine Konferenz europäischer BürgermeisterInnen zur Flüchtlingskrise statt. Jede und jeder der rund 70 BürgermeisterInnen berichtete von den Herausforderungen und Lösungsansätzen seiner bzw. ihrer Stadt.

 

Diese sind wohl sehr verschieden?

 

Corine Mauch: Eines steht fest: Unabhängig davon, was die nationale Politik der jeweiligen Länder vorgibt, sind es stets die Kommunen und insbesondere die Städte, die ganz konkret mit den Flüchtlingen zu tun haben.

 

Raphael Golta: Auch bei uns geben bekanntlich Bund und Kanton den Takt an; als letzterer im November 2015 relativ kurzfristig entschied, die Aufnahmekontingente der Gemeinden zu erhöhen, waren wir gefordert: Wir müssen dafür sorgen, dass alle ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen haben, dass die Kinder die Schule besuchen, dass sich die Erwachsenen hier zurechtfinden. Heute leben 2851 Flüchtlinge in Zürich, was 103 Prozent unseres Kontingents von 2772 Personen fürs Jahr 2016 entspricht.

 

Corine Mauch: Wir sind auf gutem Weg: Die Unterbringung klappt, die Schulen sind der grossen Herausforderung gut gewachsen, und auch aus der Bevölkerung erhalten wir viele positive Reaktionen und Hilfsangebote.

 

Wie unterscheidet sich die Situation in Zürich von jener in anderen europäischen Städten?

 

Corine Mauch: Ich habe an der Konferenz in Rom unter anderem mit den Bürgermeistern von Lesbos und Palermo gesprochen. Dass sie in Sachen Unterbringung und Versorgung mit Problemen einer anderen Grössenordnung konfrontiert sind als wir, steht ausser Frage. Zudem steigen bekanntlich längst nicht nur körperlich unversehrte Menschen aus den Booten: Letztes Jahr sind so viele Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken wie nie zuvor. Viele kamen in gesundheitlich sehr schlechtem Zustand in Europa an. Das ist für die Verantwortlichen vor Ort sehr belastend. Nebst den BürgermeisterInnen aus solchen Städten nahmen an der Konferenz aber auch etliche teil, deren Situation mit unserer vergleichbar ist. Letzteres trifft etwa auf deutsche Städte zu, die Flüchtlinge aufgenommen haben und nun daran sind, sie zu integrieren. Zu denken gaben umgekehrt Berichte etwa aus Portugal, einem Land, das sich gegenüber der EU bereit erklärt hatte, 1000 Flüchtlinge aufzunehmen – doch diese kamen nie an.

 

Weshalb?

 

Corine Mauch: Zum einen sind die Flüchtlinge nicht so sehr an einem Land interessiert, aus dem Einheimische selber ins Ausland abwandern, weil es keine Jobs gibt. Vor allem aber zeigt dieser Fall klar, dass die Umverteilungsmechanismen innerhalb der EU zwar beschlossene Sache sein mögen, aber in der Realität nicht funktionieren. Ein Beispiel: Die Stadt Barcelona schrieb der Stadt Athen und bot ihr an, 100 Flüchtlinge zu übernehmen. Doch auch das hat nicht geklappt, weil Regierungschef Mariano Rajoy solche Transfers nicht zugelassen hat. Hier hat die EU aus meiner Sicht einen dringenden Handlungsbedarf.

 

Was passierte, wenn die Transfers trotz allem zustande kamen?

 

Corine Mauch: Dazu gibt es etliche positive Beispiele: Ein paar kleine Städte im ländlichen Italien, die seit längerem unter der Abwanderung der eigenen Bevölkerung leiden, nahmen Flüchtlingsfamilien auf. Dadurch konnten sie ihre Schule wieder öffnen, den Dorfladen wieder betreiben, sich wieder als Dorfgemeinschaft erfahren. Ein Dorf nahm besonders viele geflüchtete KurdInnen auf; heute spricht die Dorfbevölkerung stolz von ‹unseren› KurdInnen, und von den Angeboten, die sich aufgrund des gewachsenen Dorfes wieder rentieren, profitieren alle. Diese Ortschaften nehmen den Zuzug von Flüchtlingen als Chance wahr.

 

Wir müssten folglich eher dafür schauen, dass mehr Flüchtlinge in die Bündner Berge ziehen, als nach Zürich zu kommen?

 

Raphael Golta: Das war die internationale Perspektive – bei uns ist ja zurzeit nicht die Ankunft vieler Flüchtlinge das Thema, sondern die Tatsache, dass sie lieber durchreisen. Und dass das ausgerechnet jener politischen Partei nicht passt, die sich seit eh und je dagegen wehrt, dass wir überhaupt Flüchtlinge aufnehmen, ist nochmals ein anderes Thema… Fest steht, dass wir heute nicht mehr als das super Land gelten, in dem sich einem alle Chancen bieten. Aber die Flüchtlinge, die nach wie vor zu uns kommen, sind in Zürich willkommen, und wir meistern die Herausforderungen, mit denen wir in der Flüchtlingspolitik konfrontiert sind.

 

Und was hat die Stadtpräsidentin den BürgermeisterInnen in Rom aus Zürich berichtet?

 

Corine Mauch: Im Plenum habe ich mein Zeitfenster von dreizehn Minuten genutzt, um unser Aktionsprogramm vorzustellen. Auf besonders grosses Interesse stiess dabei das Projekt «Erst-Flucht-Stadt».

 

Was beinhaltet es?

 

Corine Mauch: In der Schweiz kommen zurzeit knapp 850 Flüchtlinge auf 100 000 Einheimische. Werfen wir nun einen Blick in ein Nachbarland Syriens, den Libanon: Dort beträgt das Verhältnis fast 21 000 Flüchtlinge pro 100 000 Einheimische. Das ist eine Grössenordnung, die wir uns gar nicht vorstellen können. Als privilegierte Stadt wollen wir deshalb eine jener Städte im Libanon unterstützen, in die Flüchtlinge zuerst ziehen.

 

Welche Stadt? Und welche Ziele verfolgen Sie damit?

 

Corine Mauch: Das ist noch offen; die NGO Solidar Suisse wird uns dabei helfen, ‹unsere› Stadt zu finden. In einer ersten Phase, die bereits begonnen hat, unterstützen wir drei konkrete Projekte, welche Gemeinden im Libanon selbst entwickelt haben: die Renovation einer Schule in Homin el Fawkaa, die Renovation und Ausstattung eines Gesundheitszentrums in Kaakyet El Jeser und den Bau eines neuen Brunnens in Qsaibet. Dafür hat der Stadtrat 150 000 Franken bewilligt. In der zweiten Phase, der Hilfe von Stadt zu Stadt, werden wir direkt mit den lokalen Behörden einer Stadt im Libanon zusammenarbeiten, um die Situation der einheimischen Bevölkerung und der Flüchtlinge gleichermassen zu verbessern. Die Versorgungsengpässe und die überlastete Infrastruktur sorgen für Spannungen und schwindende Akzeptanz gegenüber den Flüchtlingen. Da wollen wir ansetzen. Dafür sind rund 350 000 Franken im Budget eingestellt.

 

Zurück nach Zürich: Was steht hier zurzeit an?

 

Raphael Golta: Schaut man nur auf die Zahlen, haben wir, wie bereits erwähnt, unsere Aufgabe erfüllt. Doch während wir vor 2015 kurzfristig Zivilschutzanlagen öffnen und so den Kanton entlasten konnten, werden diese Anlagen nun nach und nach wieder geschlossen, und unser Fokus richtet sich darauf, längerfristig tragbare Lösungen zu finden. Dabei wird das Sozialdepartement unter anderem von der Liegenschaftenverwaltung und von Genossenschaften unterstützt. Dass es in Zürich nicht einfach ist, zahlbaren Wohnraum zu finden, gilt aber logischerweise auch für Flüchtlinge.

 

Gibt es spezielle Vorgaben dazu, wie Wohnraum für Flüchtlinge auszusehen hat, die anerkannt oder vorläufig aufgenommen werden und somit längerfristig hier bleiben?

 

Raphael Golta: Nein, unser Ziel lautet, dass diese Flüchtlinge eine ganz normale, zahlbare Wohnung beziehen sollen, genau wie Herr und Frau Schweizer auch.

 

Auf die Grundversorgung folgt also idealerweise die Integration und schliesslich die Arbeits- oder Lehrstelle: Wie steinig ist dieser Weg, beziehungsweise: Ist er überhaupt gangbar?

 

Raphael Golta: Je jünger jemand ist, desto besser stehen die Chancen dafür. Die Volksschule ist erwiesenermassen der beste Integrationsmotor. Für Jugendliche, die bereits zu alt sind für die Volksschule, haben wir deshalb zusätzliche Schulungsangebote geschaffen.

 

Und was passiert mit Erwachsenen aus ländlichen Gegenden, die keine Schulen besucht haben und die man folglich auch nicht in ein Qualifikationsprogramm stecken kann?

 

Raphael Golta: Bei den Erwachsenen lautet das Ziel, möglichst viele in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das Problem, wegen unzureichender beruflicher Qualifikationen keine Stelle zu finden, haben im übrigen auch etliche einheimische SozialhilfeempfängerInnen; genügend Arbeitsstellen für Unqualifizierte gibt der Arbeitsmarkt heutzutage schlicht nicht mehr her.

 

Da ist der Weg wohl nicht weit zu Anfeindungen von rechts, Flüchtlinge nähmen SchweizerInnen diese Jobs weg…

 

Raphael Golta: Wir haben zusätzliche Angebote für Flüchtlinge geschaffen und setzen alles daran, dass sich möglichst viele aus- und weiterbilden können. Im übrigen bin ich zuversichtlich, dass viele der Flüchtlinge von heute die Erfolgsgeschichten von morgen schreiben werden, im Sport etwa, in der Küche und an vielen andern Orten – so wie wir es mit jenen Menschen erlebt haben, die vor Jahrzehnten zu uns gekommen und heute so gut integriert sind, dass sie ganz selbstverständlich dazugehören.

 

An der Medienkonferenz erwähnten Sie auch noch die Pläne des bürgerlich dominierten Regierungs- und Kantonsrats, vorläufig Aufgenommene nur noch nach den tieferen Ansätzen der Asylfürsorge zu unterstützen statt nach den SKOS-Richtlinien, die für anerkannte Flüchtlinge gelten. Was stört Sie an diesen Plänen?

 

Raphael Golta: Fakt ist, dass sich vorläufig Aufgenommene und anerkannte Flüchtlinge nur auf dem Papier voneinander unterscheiden. Deshalb sollten sie punkto Integration auch gleich behandelt werden. Kommt nun aber die Regelung durch, die den Bürgerlichen vorschwebt, müssen wir entweder bei der Integration der vorläufig Aufgenommenen sparen, oder wir bleiben auf den zusätzlichen Kosten sitzen – sprich, wir bezahlen als Stadt für etwas, was ganz klar die Aufgabe des Kantons ist.

 

Corine Mauch: Diese Regelung würde dem widersprechen, was unser politisches System vorsieht – dass nämlich Menschen, die voraussichtlich hier bleiben werden, möglichst früh zu integrieren sind. Kurz, es wäre ein Anreiz, das Falsche zu tun.

 

Wie lautet das Fazit Ihrer Zwischenbilanz zur Flüchtlingspolitik?

 

Raphael Golta: Es läuft, wir kommen voran, auch wenn es noch etliche Herausforderungen zu bewältigen gibt. Wir haben in Zürich aber nicht zuletzt das Privileg, dass uns die Bevölkerung sehr gut unterstützt: Vereine, Genossenschaften, Firmen, Einzelpersonen und Familien engagieren sich und leisten unzählige Stunden Freiwilligenarbeit. 130 Haushalte haben sich gemeldet, um Flüchtlinge bei sich zuhause aufzunehmen, 61 Flüchtlinge konnten bereits vermittelt werden.

 

Corine Mauch: Wir kümmern uns um die geflüchteten Menschen, die zu uns kommen – aber wir sollten nicht vergessen, dass wir dies keineswegs nur aus Altruismus tun, sondern weil es in unserem ureigenen Interesse ist, früh in sie zu investieren.

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