Unschuldig frei

Die schlimmste Kette, in die die Gesellschaft und ich mich selbst lege, ist das Gefühl, selber schuld zu sein.

 

«Frauen stolpern nicht in die Teilzeitfalle, sie wählen sie bewusst, weil sie Mutter werden und Mutter sein wollen. Im Weg steht den Frauen der Wunsch, Zeit mit den Kindern zu verbringen.» Das schreibt Nicole Althaus in der ‹NZZ am Sonntag›. Also selber schuld, weil selbst gewählt. Es ist furchtbar falsch, was sie schreibt. Denn die Teilzeitfalle ist deshalb eine, weil man dadurch schlechtere Karrierechancen hat und im Verhältnis weniger verdient. Nicht das weniger Arbeiten an sich ist das Problem, sondern die Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Und die Konsequenzen ergeben sich, weil Teilzeitarbeit als weniger wertvoll betrachtet wird als ein Vollzeitpensum. Und diese Wertung wiederum ergibt sich, weil Vollzeit männlich und Teilzeit weiblich ist. Es ist also furchtbar falsch, was Althaus behauptet, aber ich verstehe, warum sie es tut.

 

Elena Ferrante schreibt in einem wahren und bedrückenden Text: «Arm oder wohlhabend, unwissend oder gebildet, schön oder hässlich, berühmt oder unbekannt, verheiratet oder Single, arbeitend oder arbeitslos, mit Kindern oder ohne, rebellisch oder angepasst – wir alle sind tief von einer Art und Weise weiblichen Daseins geprägt, die – selbst wenn wir sie als die unsrige beanspruchen – schon an der Wurzel durch Jahrtausende männlicher Vorherrschaft vergiftet ist. Das Leben als Frau ist von permanenten Widersprüchen und untragbaren Aufgaben geprägt.» Dazu gehört, dass wir uns auch ständig kontrollieren und klein machen, denn wir sollten nicht zu schön, zu intelligent, zu zuvorkommend, zu unabhängig, zu grosszügig, zu aggressiv oder zu nett sein, hält sie fest. «Wenn eine Frau irgendwas ‹zu sehr› ist, bringt das heftige Reaktionen von Männern hervor und zusätzlich noch die Feindschaft anderer Frauen (…). Die Konsequenz daraus ist nicht nur, dass weibliche Macht ständig erstickt wird, sondern dass wir uns (…) selbst ersticken.»

 

Und natürlich sind wir daran selber schuld, wie auch Erich Aschwanden in der NZZ erkennt und aufruft: «Mehr Mut zur Kandidatur, Frauen». Es gibt nämlich kaum mehr Frauen in den Exekutiven. Nachdem es gefühlte 3 Minuten lang – im Vergleich mit den rund 2000 Jahren ausschliesslich männlicher Vorherrschaft – gut ausgesehen hat, gibt es wieder vermehrt reine Männergremien. Das wird bedauert. Die schreibenden männlichen Journalisten weisen darauf hin, dass es natürlich auch an der mangelnden Förderung liegt und beim Aufbau von Frauenkandidaturen hapert. Aber sie schliessen dann doch alle gleich: «Dass Frauen noch immer zu selten in Regierungen und Parlamenten präsent sind, liegt aber auch an ihnen selber.» Sie sind also selber schuld, wenn sie sich mit zu hohen Ansprüchen aus dem Rennen nehmen und sich ein Amt grundsätzlich weniger zutrauen als Männer.

 

Es ist furchtbar falsch. Ich weiss das so genau, wie ich seit Jahrzehnten nicht weiss, wie ich es ändern könnte. Bis es mir vielleicht einfällt, mache ich es nun so wie Elena Ferrante: «Ich weigere mich aus Prinzip, schlecht über eine andere Frau zu sprechen, selbst wenn ihr Verhalten inakzeptabel, verletzend oder ärgerlich war. Der Grund für meine Haltung ist, dass mir die Situation von Frauen dieser Welt bewusst ist. Nicht nur, weil es meine eigene ist – ich beobachte auch andere, und ich weiss, dass es keine Frau gibt, die nicht jeden Abend eine enorme Anstrengung hinter sich hat, die sie in die Verzweiflung treiben könnte.» Das bin ich, das bist du, das sind wir. Nicht schuld und nicht frei.

 

Andrea Sprecher

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