«Überwacht werden die Unschuldigen»

Die Abstimmung vom 25. September über das Nachrichtendienstgesetz (NDG) naht. Doch worüber stimmen wir eigentlich ab, und warum ist das neue Gesetz umstritten? Balthasar Glättli (Grüne), Mitglied der sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats, erläutert die Vorlage im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Um den Terrorismus zu bekämpfen, brauche der Nachrichtendienst des Bundes Mittel zur Informationsbeschaffung, die dem heutigen Stand der Technik entsprächen, und dafür wiederum brauche es das neue Nachrichtendienstgesetz (NDG), heisst es von bürgerlicher Seite. Dagegen spricht doch kaum etwas, oder?

Balthasar Glättli: Zuerst einmal müssen wir nicht nur den Terrorismus betrachten, sondern das System der Verbrechensbekämpfung als Ganzes. Ich stelle fest: Bereits gemäss unseren bestehenden Gesetzen ist es nicht nur strafbar, einen Anschlag zu begehen. Auch Vorbereitungshandlungen für einen Terroranschlag sind strafbar. Besteht also ein genügender Anfangsverdacht auf die Vorbereitung eines Terrorakts, kann die Bundesanwaltschaft schon heute gegen jemanden ermitteln, und zwar mit den üblichen Zwangsmassnahmen, wie sie in Strafermittlungsverfahren zur Anwendung kommen: Man kann das Telefon, den Computer und die Post eines Verdächtigen überwachen oder auch seine Wohnung oder sein Geschäft durchsuchen.

 

Worum geht es denn beim NDG?

Das neue Gesetz regelt, welche Überwachung im sogenannten Vorfeld erlaubt sein soll. Also dann, wenn eben noch kein genügender Anfangsverdacht für ein reguläres Strafermittlungsverfahren besteht. Wird das NDG angenommen, bekommt der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) in diesem Vorfeld mehr Kompetenzen für Zwangsmassnahmen, als die Strafverfolgungsbehörden sie in Fällen mit einem konkreten Verdacht haben! Der Geheimdienst erhält nicht nur die Kompetenz für den «grossen Lauschangriff» in Privaträumen, er darf auch die sogenannte Kabelaufklärung praktizieren.

 

Was ist denn das?

Kabelaufklärung bedeutet, den gesamten Internet- und Mailverkehr nach gewissen Stichworten und/oder EmpfängerInnen von Mails zu durchsuchen. Wer in einem Mail also beispielsweise das Wort «Bombe» verwendet, gerät auf den Radar des NDB.

 

Von bürgerlicher Seite heisst es, der Nachrichtendienst werde mit dem neuen NDG auch stärker kontrolliert, weshalb solche Eingriffe drinlägen.

Wie diese Kontrolle aussieht, lässt sich an obigem Beispiel schön illustrieren: Der Nachrichtendienst des Bundes muss sich tatsächlich die Stichwörter, die sogenannten Selektoren, bewilligen lassen, nach denen er Mails filtern will. Will er nach «Bombe» filtern, muss er sich das Wort «Bombe» bewilligen lassen – was nicht allzu schwierig sein dürfte… Aber jeder, der künftig seinem Kollegen eine Mail schreibt, in der er schwärmt, das Konzert gestern Abend sei «bombenmässig gut» gewesen, kriegt möglicherweise Besuch vom NDB.

Der NDB bekäme zudem Zugriff auf die sogenannten Randdaten, die in der Schweiz laut Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Büpf) sechs Monate lang gespeichert werden müssen. Als Randdaten bezeichnet man die Datenspur, die jede und jeder von uns hinterlässt, sobald er oder sie im Internet surft oder mit dem Handy telefoniert.

 

Gemäss Büpf werden diese Daten doch nur zu Zwecken der Strafermittlung gespeichert und erst auf einen richterlichen Beschluss bei konkretem Verdacht freigegeben.

Ja. Doch diese Einschränkung würde mit dem NDG für den Geheimdienst ausgehebelt. Er wird ohne konkreten Anfangsverdacht auch Zugriff auf diese Daten bekommen. Damit ist der NDB künftig darüber im Bild, wer wann und wo sein Handy bedient und mit wem er kommuniziert.

 

Warum ist das so schlimm? Den Inhalt des Gesprächs erfährt er damit ja nicht.

Das stimmt, doch das Bewegungs- und Kontaktprofil eines Menschen ist schon sehr aufschlussreich, wie ich vorletztes Jahr anhand eines Selbstversuchs aufgezeigt habe: Ich beschaffte mir meine Randdaten und veröffentlichte sie auf meiner Website. Nur schon die Randdaten zu bekommen, war schwierig, denn die Daten derjenigen, mit denen ich kommunizierte, wurden dadurch logischerweise auch veröffentlicht, was eine Verletzung des Datenschutzes bedeutet. Deshalb musste ich erst die Einwilligung meiner GesprächspartnerInnen einholen. Doch kommt das neue NDG durch, darf der Nachrichtendienst künftig auf alle Randdaten zugreifen oder auch Staatstrojaner in Computer einpflanzen.

 

Staatstrojaner sind doch bereits in Gebrauch, jedenfalls im Kanton Zürich…

Im Kanton Zürich war der Staatstrojaner für die Strafverfolgung im Einsatz, nicht für den Geheimdienst. Und das – in Bundesbern ist man sich da einig – ohne die nötige Gesetzesgrundlage. Diese würde mit dem Büpf erst geschaffen. Hier aber sprechen wir vom Staatstrojaner für den Geheimdienst. Zwar versicherte der Bundesrat, es gebe nur etwa zehn Fälle pro Jahr, in denen der Geheimdienst den Staatstrojaner anwenden würde. Das aber kann nur bedeuten, dass Staatstrojaner erst dann eingesetzt werden sollen, wenn bereits ein Anfangsverdacht vorhanden ist – in einem solchen Fall sollte der Nachrichtendienst den Fall aber sowieso den Strafermittlungsbehörden übergeben, denn dann fällt er ja nicht mehr in dessen Aufgabenbereich, die Vorfeldermittlung.

 

Den Nachrichtendienst braucht es eigentlich gar nicht?

Wenn ein Mann, der in Syrien war, regelmässig in einem muslimischen Verein auftaucht und dort islamistische Propaganda verbreitet, wenn dieser Mann auf Facebook aggressiv auftritt und vielleicht sogar aus seinem Umfeld Anrufe bei der Polizei eingegangen sind, dann habe ich selbstverständlich nichts dagegen, dass gegen diesen Mann ermittelt wird; es gibt ja einen Anfangsverdacht. Doch dann ist eben nicht mehr der NDB zuständig, sondern die Strafverfolgung.

 

Dann haben die Getöteten und Verletzten der Anschläge in Frankreich oder Belgien einfach Pech gehabt?

Wir kennen die Identität von 15 der 17 Attentäter, die unmittelbar beteiligt waren an Anschlägen aufs jüdische Museum in Brüssel 2014, auf Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt, auf das Kulturzentrum und die Synagoge in Kopenhagen, in Paris am 13. November 2015 und in Brüssel 2016. Und alle identifizierten Attentäter waren dem Geheimdienst und/oder der Polizei bereits vorher bekannt. Alle standen auf Terrorwarnlisten. Zehn hatten Vorstrafen. Acht waren bereits zur Fahndung ausgeschrieben, zum Teil seit langer Zeit! Diese tragischen Fakten, die der deutsche Blogger Sacha Lobo zusammengetragen hat, zeigen: Wir haben nicht zu wenige, sondern eher zu viel Daten. Es fehlen die Ressourcen, diese Daten laufend zu analysieren, bereits ausgeschriebene Personen zu finden, sie zu beschatten. Müssten auch noch unzählige Zufallsfunde übers Internet registriert, fein säuberlich sortiert und aufbereitet werden, dann müsste der Nachrichtendienst dafür Hunderte von Leuten anstellen… Je mehr überwacht werden darf, desto schwieriger wird es, aus der exponenziell zunehmenden Menge an Material die richtigen Schlüsse zu ziehen. Oder anders gesagt: Wer den Heuhaufen massiv vergrössert, macht es nicht einfacher, die Nadel im Heuhaufen zu finden.

 

Dann brauchte der Nachrichtendienst einfach mehr Personal?

Eher Polizei und Bundesanwaltschaft. Denn wenn der NDB Polizeiaufgaben übernimmt, dann stellt sich ein zusätzliches Problem. Es ist nicht klar, an welchem Punkt er die Fäden aus der Hand gibt. Wenn bei einem klaren Anfangsverdacht aber kein rascher Übergang vom NDB an die Strafverfolgungsbehörden zustande kommt, kann es gar passieren, dass ein Terrorist freigesprochen werden muss, obwohl es höchst wahrscheinlich ist, dass er etwas verbrochen hat. Dies deshalb, weil nur jene Beweise, die im Rahmen der Strafprozessordnung erhoben wurden, vor Gericht sicher zulässig sind.

 

Was ist denn nicht zulässig am Material, das der Nachrichtendienst sammelt?

Ein Beispiel: Gemäss neuem Gesetz soll der Nachrichtendienst Staatstrojaner nicht nur benützen dürfen, um jemanden auszuhorchen, sondern auch, um jemanden zu manipulieren. Ein Staatstrojaner ist ja nichts anderes als ein Computervirus, ein kleines Programm, das sich in einem Computer oder Handy einnistet und mit umfassenden Benutzerrechten ausgestattet ist: Ein Staatstrojaner kann alles abhören, Mikrophon und Kamera des Computers oder des Handys einschalten und alles filmen und Daten verändern. Der NDB könnte demnach in meinem Namen eine E-Mail an einen Terroristen schreiben und diese Nachricht in meine Mailbox einschleusen, und wenn ich wahrheitsgemäss erklärte, diesen Terroristen nicht zu kennen, würde mir der manipulierte ‹Beweis› unter die Nase gerieben. Gerade beim Einsatz von Staatstrojanern müsste die Verteidigung folglich darauf hinweisen, dass nicht bewiesen werden könne, was der Beschuldigte selber gemacht habe und was ihm untergeschoben worden sei. Der Beschuldigte sei somit gemäss dem Grundsatz «im Zweifel für den Angeklagten» freizusprechen. So könnte es ausgerechnet wegen dem neuen NDG passieren, dass man eine kriminelle Person laufen lassen müsste. Staatstrojaner sind aber noch aus einem anderen Grund bedenklich.

 

Der da wäre?

Die Hersteller von Trojanern leben vom internationalen Schwarzmarkt der Sicherheitslücken und insbesondere von sogenannten Zero-Day-Exploits, also davon, dass Sicherheitslücken ausgenützt werden, bevor die gängigen Virenschutzprogramme entsprechend aufgerüstet sind. Indem die Schweiz Staatstrojaner beschafft, unterstützt sie diesen kriminellen Schwarzmarkt. Damit akzeptiert sie erstens, dass sie die Mafia mitfinanziert, und zweites, dass sie ab sofort ein vitales Interesse daran haben muss, dass Sicherheitslücken, beispielsweise des weitverbreiteten Systems Windows, nicht bekannt werden. Solche Lücken nützen aber natürlich nicht nur die ‹Guten› wie etwa die Nutzer von Staatstrojanern aus, sondern auch alle Cyberkriminellen. Und als Nutzer von Staatstrojanern gehört der Nachrichtendienst, wie gesagt, nur bedingt zu den Guten: Sein Vorgehen höhlt grundlegende Elemente von Rechtsstaatlichkeit aus. Denn würden diese hochgehalten, hätte der Staat auch künftig nur dann die Möglichkeit, in die Privatsphäre einzudringen, wenn ein Anfangsverdacht besteht. Diesen Vorbehalt sucht man aber im neuen Kompetenzpaket des NDB vergebens.

 

Die Mediengewerkschaft Syndicom stellt sich gegen das NDG, weil dieses die Meinungsäusserungs- und die Medienfreiheit einschränke: Ist das so?

Wenn alle wissen, dass der Nachrichtendienst mithören kann und die Randdaten sowieso angezapft werden, bekommen die Medien kaum mehr brisante Informationen. Zudem kann eine Redaktion ihre Quellen nicht mehr wirksam schützen. Umgekehrt wird auch das Öffentlichkeitsprinzip beim Geheimdienst verletzt: So sieht das neue Gesetz beispielsweise vor, dass der Nachrichtendienst des Bundes mehr als bisher mit andern Diensten zusammenarbeiten kann. Dass zu solchen Operationen keine Details veröffentlicht werden, ist ja klar. Aber als ich im Nationalrat eine Anfrage einreichte, weil ich mindestens wissen wollte, wie viele pro Jahr das bisher waren, hiess es ebenfalls, das sei geheim – und das soll trotz der Ausweitung auch so bleiben.

 

Angenommen, das NDG wird abgelehnt: Die Anschläge des IS hören deswegen nicht einfach auf, und der Terrorismus bleibt eine Bedrohung. Was sollen wir also tun?

Es gibt durchaus Präventionsmassnahmen, die richtig und wichtig sind. Zum Beispiel schlug eine Motion der sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats eine in der ganzen Schweiz gültige Telefonnummer vor, hinter der eine Beratungsstelle steht, an die man sich wenden kann, wenn man das Gefühl hat, das eigene Kind, eine Schülerin oder ein ‹Gspänli› aus dem Fussballklub radikalisiere sich. Eine entsprechende Stelle gibt es bereits im Kanton Bern, und dahinter stehen Fachleute, die abschätzen können, was gefährlich ist und was nicht und auch Unterstützung bieten. Leider wurde die Motion in der Sommersession 2015 abgelehnt. Aber das Anliegen muss man weiterverfolgen.

 

Wann wird diese Nummer eingeführt?

Vorerst gar nicht, denn Bundesrätin Simonetta Sommaruga befand, eine solche Stelle sei nicht nötig, dafür sei schon die Polizei zuständig. Natürlich geht es mir nicht darum, einen Ort zu schaffen, wo man Muslime anschwärzen kann – aber genauso wenig zeigt jemand sein Kind bei der Polizei an; das ist völlig weltfremd. Es braucht niederschwellige kompetente Anlaufstellen, denn die Idee dahinter – viel früher hin- als allzu lange wegsehen – ist auf jeden Fall praktikabler und erfolgversprechender als der grosse Lauschangriff. Und nochmals: Wenn es schon Überwachung sein soll, dann wäre es gescheiter, während Zeiten grösserer Bedrohung durch Jihadisten zusätzliches Personal anzustellen, das Arabisch spricht und beispielsweise auch den öffentlichen Bereich auf Facebook & Co. im Blick behalten kann. Als der Bundesrat nach dem Anschlag aufs ‹Bataclan› 23 befristete zusätzliche Stellen für die Analyse beantragte, haben wir Grünen uns jedenfalls nicht gewehrt!

 

Kurz zusammengefasst: Warum Nein zum NDG?

Die Nachteile für Normalsterbliche sind gross. Überwacht werden die Unschuldigen. Einige Terroristen mögen tatsächlich, bildlich gesprochen, bereits mit dem Ferrari unterwegs sein, während das neue NDG unserem Nachrichtendienst erst mal einen VW bewilligen will – wollte man die Aufrüstungsspirale mitmachen, bräuchte man, um im Bild zu bleiben, wenn schon Lamborghinis. Aber das heisst dann Kompetenzen zur Totalüberwachung Unverdächtiger, wie sie die amerikanische NSA hat – und wie sie zu Recht alle kritisierten! Und zu guter Letzt ist heutzutage Verschlüsselungstechnik so leicht und günstig zu beschaffen, dass jede und jeder davon profitieren kann – eine Verschlüsselung, die militärischen Zwecken genügte, kann mit WhatsApp jeder Grosspapi problemlos installieren.

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