Überraschend unbequem

Mit «Beytna» aus Libanon und «The Enormous Room» aus Grossbritannien liefern gleich zwei Produktionen im Rahmen von Steps existenzielle Infragestellungen der Schlagwortforderungen nach Integration und Inklusion.

 

 

Thierry Frochaux

 

 

Ein Araber, ein Schwarzer, ein Nordeuropäer und ein Asiate stehen gemeinsam auf der Bühne. Was wie die Einleitung zu einem schlechten Witz tönt, ist in der Gruppenarbeit «Beytna» des Maqamat Dance Theatres aus Beirut die optisch absichtlich forciert als divers erkennbare Ausgangslage zur Versuchsanordnung namens Integration. Im Hintergrund läuft eine Stoppuhr, als handelte es sich dabei um ein Wettrennen. Über das Mittel der individuellen Tanzsprache, die sich Omar Rajeh (Libanon), Anani Sanouvi (Togo), Koen Augustijnen (Belgien) und Moonsuk Choi (Südkorea) in ihrer professionellen Karriere angeeignet haben, verhandelt «Beytna» die Vielzahl möglicher Problemstellungen, die ein geplantes Beieinandersein in gegenseitiger Rücksicht torpedieren können. Eine überdimensionierte Küchenzeile, an der May Bou Matar einen riesigen Berg Fattouche zubereitet, dominiert die Bühne und verortet das Stück in den traditionellen, wöchentlichen Familientreffs zu Essen und Austausch. Vier Musiker legen einen – nicht nur orientalischen – Teppich aus. Selbst wenn die Anlage aufsässig didaktisch wirkt und rein tänzerisch wenig hergibt, begleitet einen die Symbolhaftigkeit noch lange. Und damit ist nicht das Sättigungsgefühl durch die finale Publikumsspeisung gemeint. Der Libanon gilt gemeinhin als Vorbild bezüglich eines funktionierenden Vielvölkerstaates wie auch der Meisterung der enormen Herausforderung durch die Aufnahme einer Grosszahl (aktuell) aus Syrien Geflüchteten. Wie strapaziert das Nervenkostüm der Bevölkerung diesbezüglich wider das Klischee dennoch ist, demons-triert aktuell Ziad Doueriri im Film «L’insulte» (P.S. vom 23.3.) auf parabelhafte Weise. «Beytan» geht die Integrationsfrage noch einen Tick grundsätzlicher an und beginnt mit der individuell sichtlichen Unlust aller Anwesenden, sich überhaupt darum zu bemühen. Die dem eigenen Ego flattierende Demonstration des eigenen Könnens liegt allen vier Tänzern sehr viel näher, auch wenn sie kleinbleibende Bewegungsexkurse ins Feld eines anderen unternehmen, sich aber jeweils rasch wieder davon abwenden. Die Anlage der Infragestellung ist überraschend unbequem, gerade weil sie keinen common-sense in der Absicht oder dem Ziel vorausschickt, sondern auch dort relativierend weiterbohrt, wos bereits weh tut.

 

Schwarze Gedanken

Noch unmittelbarer und selbst für bezüglich Bühnenbearbeitungen von Inklusion über reichlich Sehgewohnheiten verfügende ZuschauerInnen ungewohnt heftig verfährt die Stopgap Dance Company mit «The Enormous Room». Jede Erwartung einer Heileweltherstellung wird sofort zunichte gemacht. Wenn David Toole mit grimmigem Gesichtsausdruck seufzt, wieso einen niemand darauf vorbereite, dass sich Trauer wie Angst anfühlte und er sich in der Folge des Verlustes der Lebenspartnerin in den eigenen vier Wänden vor der Welt und eben diesen Gefühlen verschanzt, ist nur noch der Rollstuhltänzerin Nadenh Poan zu teuflich krächzendem Lachen zumute. Die Company mit behinderten und nichtbehinderten TänzerInnen verlegt daraufhin ihre mit dem Tod des Lieblingsmenschen nicht aufhörenden Zärtlichkeitsbedürfnisses an die Dingwelt und herzt Schubladen, abblätternde Tapeten, den Fernseher. Im übertragenen Sinne – der im zweiten Teil zum Tragen kommt, nachdem Davids Rache-Wut-Verzweiflungsplan vom Niederreissen dieses selbstgewählten Schutzwalls ohne sein eigenes Zutun Realität geworden ist – steht dieses Zärtlichkeitsbedürfnis, körperlich wie seelisch, auch für die existierende Diskrepanz zwischen offiziell verkündetem Interesse an Inklusion und dem Resultat in der Realität. «The Enormous Room» ist – auch – eine ungewohnt schonungslose Klage über das gesamtgesellschaftliche Vermögen Chancengleichheit zu buchstabieren, dieser Bemühung dann aber keinerlei weiteren Schritt alias Konsequenz folgen zu lassen. So direkt wie hier wurde ein Publikum selten aus der eigenen Komfortzone geschüttelt: Behinderte sind nicht nett und hilfsbedürftig und dankbar. Behinderte werden zuallererst über ihre körperliche und/oder geistige Besonderheit hinaus von den Menschen in ihrer Umwelt behindert. Der Tanz im zweiten Teil beklagt den restgesellschaftlichen Zuspruch als Heuchelei, Verständnis als Ignoranz und Unvermögen als Feigheit. Die Tonalität wirkt weniger britisch sarkastisch als vielmehr aufrichtig ein existenzielles Grundproblem beklagend: Wenns draufankommt, rutscht das Herz in die Hose… Wie entlarvend einen das im Theatersitz mit sich selber konfrontiert, ist beklemmend eindringlich und stimmt einen im Idealfall demütig. Das Festivalmotto «Mut» ist mit diesen beiden konsequenten Infragestellungen eines behaupteten courant normal vollends getroffen.

 

«The Enormous Room» gastiert noch am 2./3.5. in der Gessnerallee, Zürich. www.steps.ch

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