Tanz auf dem Vulkan

Verkehrte Welt: Da taucht eine konservative Partei in den Wahlen. Deren Vorsitzende sieht sich zum Rücktritt gezwungen. Europas Rechte jubelt. Die Linke ist ein wenig betreten. Die Rede ist natürlich von Merkel und der CDU. «Es ist nicht ohne Ironie, ja, fast ein Treppenwitz der Geschichte: Es sind eher die Parteien und gesellschaftlichen Milieus Mitte-rechts und ganz rechts, die erleichtert sind, weil Merkel demnächst politisch Geschichte ist. Und es sind die von Mitte-links bis ziemlich links, die erschrocken den Atem anhalten oder teilweise in Merkel-Melancholie verfallen», meint auch Robert Misik in der ‹Zeit›. Seine Begründung: Der Merkel-Hass liege nicht nur in der Flüchtlingspolitik begründet. «Wer ‹Merkel muss weg› rief, meinte im Grunde nicht nur die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Sondern die gesamte Modernisierungs-Merkel. Die Frauen-Merkel. Die Gesellschaftsliberalismus-Merkel. Die Entideologisierungs-Merkel. Das gesamte Paket.»

 

Ich habe nie ganz begriffen, warum dieses «Wir schaffen das» solche Hassgefühle auslösen kann. Ich meine, was hätte sie denn sagen sollen? «Wir schaffen es nicht?» «Es ist eine Katastrophe?». Niemand, auch nicht Merkel, hat jemals behauptet, dass die Bewältigung einer grösseren Flüchtlingskrise einfach und problemlos ist. Aber eben machbar. Und es wurde ja auch geschafft. Merkels kleiner Anfall von Menschlichkeit blieb eine ganz kurze Episode. Refugees sind schon lange nicht mehr welcome. Die Zahlen haben stark abgenommen. Wie auch in der Schweiz sind Unterbringung und Integration der aufgenommenen Flüchtlinge nicht problemlos, aber keineswegs unlösbar. Und wie viele Umfragen gezeigt haben, sieht das die grosse Mehrheit der Deutschen genauso.

 

Nur die AfD – und im Schlepptau beinahe sämtliche Medienschaffende – sehen es anders. Im Wochentakt sorgen sich Talk-Shows und Leitartikler um besorgte Bürger (Bürgerinnen sind es eher weniger). Man dürfe das Ausländerthema, die Zuwanderung nicht mehr länger tabuisieren. Auch bei uns wird dies immer wieder angemahnt. Der ehemalige Zürcher Regierungsrat Markus Notter ärgerte sich schon 2013 in der ‹Zeit› darüber: «Ich kann das Geschwafel vom Ernstnehmen der Ängste vor der Zuwanderung nicht mehr hören. Was hat uns denn in diesem Land in den letzten vierzig Jahren mehr beschäftigt als die Angst vor den Ausländern? (…) Erst waren es die Tschinggen, dann die Jugos und Tamilen und heute sind es die Expats, die im Coop kein Deutsch sprechen. Und natürlich die Deutschen, die uns in den Boden reden – auf Deutsch, was wir als besondere Frechheit empfinden.» Sowohl in Bayern wie auch Hessen haben übrigens die Grünen besonders zugelegt. Weit mehr als die AfD. Auf den Leitartikel, dass man endlich die Ängste der Menschen vor dem Klimawandel ernstnehmen müsse, warte ich immer noch.
Vermutlich hat die grosse Koalition, hat Kanzlerin Merkel einfach den Zenith überschritten. Auch bei ihrem Vorvorgänger Helmut Kohl hatten die Leute irgendwann genug. Mit dem Unterschied, dass es damals eine Alternative in Form von Rot-Grün gab (über die Schröder-Jahre werde ich hier den Mantel des Schweigens breiten). Was wäre heute die Alternative? Jamaika? Schwarz-Grün? Groko mit anderem Personal? Alles nur mässig attraktiv. Und so bleiben die beiden Koalitionspartner noch beieinander, hilf- und ratlos. Wer wird Merkels Nachfolger oder Nachfolgerin? Es bleibt spannend.

 

Auch anderswo auf der Welt bleibt die Lage beunruhigend. Was vor Kurzem noch unmöglich schien, scheint immer häufiger und immer öfter salonfähig. Man sollte mit historischen Vergleichen vorsichtig sein, aber nicht nur in Brasilien scheinen Verhaltensweisen und Ideen wieder mehrheitsfähig zu werden, die man längst auf dem Misthaufen der Geschichte wähnte.

 

Man soll es nicht ernst nehmen, was Bolsonaro oder Trump sagen. Es ist nur Geschwätz. An ihren Taten soll man sie messen, meinen hiesige Rechte. Die sind oft noch ungeheuerlicher. Wenn Kleinkinder von ihren Eltern getrennt und in Käfigen untergebracht werden, wie es in den USA geschehen ist. Unter grossem Druck gab Trump die Praxis schliesslich auf. Doch noch lange sind nicht alle Kinder wieder mit ihren Eltern vereint. Doch ein inhumanes Behandeln von Flüchtlingen – Kinder inklusive – ist leider nicht auf Rechtsaussen-Politiker beschränkt.
Ich schwanke immer wieder zwischen Optimismus und Pessimus, was die Weltlage angeht. In vielem ist die Welt besser geworden. Die Kindersterblichkeit ist gesunken, die extreme Armut auch, ebenso der Analphabetismus. Auch hierzulande hat es viele Fortschritte gegeben. Die persönlichen Freiheiten sind gewachsen. Man darf nicht vergessen, dass noch vor vierzig Jahren Konkubinatspaare keine städtische Wohnung mieten und Ehefrauen ohne Erlaubnis ihres Mannes nicht arbeiten durften. Das alles hat sich verändert, und selbst Konservative würden nicht mehr in diese schlechte alte Zeit zurückwollen. Nicht alle Entwicklungen sind positiv, aber von einigem sind wir in der Schweiz und auch in Westeuropa mehrheitlich verschont geblieben. Die Einkommens­ungleichheit ist – im Gegensatz zu den USA – in der Schweiz nicht gross gestiegen, was wir auch den flankierenden Massnahmen zu verdanken haben. Der Wirtschaft geht es gut, der Sozialstaat funktioniert. Auch in Deutschland – unter der ungeliebten GroKo – sind Fortschritte erzielt worden: Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, die Löhne sind gestiegen (einschliesslich der Mindestlöhne), die Kinderbetreuung ist ausgebaut worden.

 

Warum also diese Wut? Diesen Hass, den man auch hierzulande bei gewissen Menschen antrifft? Auf PolitikerInnen, auf die Medien, auf Institutionen? Man muss die EU nicht mögen, man muss auch keinen Beitritt wollen. Aber ihr den Untergang wünschen scheint mir doch selbst für EU-GegnerInnen ein wenig (selbst)destruktiv. Immerhin ist unser Verhältnis zur EU doch wirtschaftlich und kulturell sehr eng. Auch ein kleiner Teil der Linken ist vor diesem Wunsch nach Chaos und Zerstörung nicht gefeit – Slavoj Žižek lässt grüssen. Diese Verelendungstheoretiker haben sich Trump gewünscht, weil der die Sache aufmischt. Die Revolution ist bisher ausgeblieben.
Dabei leben wir in einer Demokratie. Hierzulande sogar in einer direkten, einer selbstbestimmten. Statt Ohnmacht ist also für jeden Bürger und jede Bürgerin Gestaltungsmacht vorhanden. Man muss sie einfach nutzen. Die dicken Bretter bohren. Das ist mühselig und auch nicht immer erfolgreich. Aber wir haben nun Mal nichts Besseres. Der Tanz auf dem Vulkan mag aufregender sein. Aber eben auch sehr heiss.

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