«Spitalsozialdienste verursachen nicht nur unverrechenbare Kosten»

Die Spitalsozialarbeit steht zunehmend im Gegenwind: Sie muss nicht nur rentieren, sondern sich auch gegenüber anderen Berufsgruppen behaupten. Dass es so nicht sein muss, erklärt Sonja Hug, die an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW Klinische Sozialarbeit lehrt.

Stefan Müller

 

Frau Hug, das Gesundheitswesen befindet sich in einem starken Wandel. So kann man beispielsweise in Spitälern Trends beobachten wie immer kürzere Spitalaufenthalte oder mehr ambulante Eingriffe. Auch in der Psychiatrie werden die Menschen mehr ambulant und weniger stationär behandelt. Was sind die Ursachen für diese Entwicklung?

Sonja Hug: Diese Entwicklung ist klar gewollt und politisch gesteuert. Man will primär Kosten sparen. Das Prinzip heisst «ambulant vor stationär», das durch die Einführung der neuen Spitalfinanzierung nach Fallpauschalen befördert wurde. Seit 2012 werden also die Spitäler nicht mehr über Tagespauschalen finanziert, sondern über Pauschalen je nach Krankheitsbild. Zweifellos ist für die meisten Menschen eine ambulante Behandlung angenehmer als eine stationäre. Doch gerade für Menschen mit psychosozialen Belastungen, mit wenig sozialen Ressourcen oder in prekären Lebenslagen kann eine ambulante Behandlung belastender sein als eine stationäre. Wenn diese Menschen unmittelbar nach einem Eingriff wieder nach Hause müssen, haben sie oft niemanden, der für sie sorgt. Einen Teil kann zwar die Spitex abdecken. Doch es muss festgestellt werden, dass ein Teil der Care-Arbeit in den nicht-bezahlten Bereich ausgelagert wird.

 

… und was bedeutet diese Entwicklung für die Spitalsozialarbeit?

Sie wurde im Prinzip wichtiger, wie man auch aus Untersuchungen aus Deutschland weiss. Die Fallzahlen stiegen dort nach der Einführung der neuen Spitalfinanzierung deutlich an. Der Grund hierfür ist klar: Wenn Menschen früher entlassen werden, müssen sie auch ambulant besser unterstützt werden. Hier gewinnt die Sozialarbeit an Bedeutung. Die Schattenseite davon ist: Es entsteht ein hoher Zeitdruck und die Gefahr, dass die bürokratische Handlungslogik dominiert – und die Soziale Arbeit schlussendlich mehr der Organisation als der Patientin oder dem Patienten dient.

 

Nicht nur der Zeitdruck wächst, sondern auch der ökonomische Druck…

Das stimmt. Ich wehre mich aber gegen die Annahme, dass die Spitalsozialdienste nur unverrechenbare Kosten verursachen. Dies trifft nicht zu. Viele Kantone wie zum Beispiel Basel-Stadt oder der Kanton Obwalden entgelten die Dienstleistungen der Sozialdienste als so genannte gemeinwirtschaftliche Kosten. Wenn mit «unverrechenbaren Kosten» argumentiert wird, empfiehlt es sich deshalb, genauer hinzuschauen, ob nicht kantonale Subventionen gesprochen sind.
In der Kostendiskussion ist weiter darauf hinzuweisen, dass der Sozialdienst durch seine Arbeit auch hilft, Kosten einzusparen: zum Beispiel durch bessere Vernetzung der Hilfeleistungen, die zu einer sowohl gesundheitlich als auch sozial stabileren Situation führen und dadurch den ‹Drehtüren-Effekt› verhindern.

 

Aber eigentlich sollte sich die Diskussion nicht nur um Kosten drehen, wenn man das Patientenwohl im Auge behalten will.

Vergessen geht in der Spardiskussion die zentrale Aufgabe des Gesundheits- und des Sozialwesens, nämlich die, die in der Bundesverfassung verankerten Menschenrechte zu realisieren: Jeder Mensch hat das Recht auf soziale Integration und Partizipation sowie Zugang zur Gesundheitsversorgung. Menschen bei der Realisierung dieser Rechte zu unterstützen, das ist die Aufgabe der Spitalsozialarbeit.

 

Case Management kommt in stationären Einrichtungen zunehmend in Mode. Warum ist das so?

Im Zentrum der Diskussion steht die hohe Fragmentierung der Gesundheitsdienste und die oft schwierige Verzahnung von psychosozialer und medizinischer Unterstützung. Das Case Management verspricht nun in der Theorie genau die notwendige Verknüpfung dieser Dienste sowie die Gestaltung der institutionellen Übergänge.

 

Wie sieht denn die praktische Umsetzung aus?

Es gibt unterschiedliche inhaltliche Ausrichtungen des Case Managements. Im reduzierten Verständnis hat das Case Management nur Koordinationsaufgaben: den Bedarf an Spitex abklären, die Hausärztin informieren usw. – also ein gewöhnliches Austrittsmanagement betreiben, wie es für viele Patientinnen und Patienten angenehm und nützlich ist. Dieses Vorgehen greift jedoch nicht zum Beispiel bei Menschen mit medizinischen und psychosozialen Belastungen, die eine längerfristige und umfassendere Unterstützung bräuchten. Hier droht eine Unter- oder Fehlversorgung, die sich unter anderem in einem ‹Drehtüren-Effekt› zeigen kann. Auch setzen Versicherer wie Krankenkassen oder Unfallversicherer Case Management bei Hochkostenfällen ein, mit dem klaren Ziel der Kosteneinsparung.
Das umfassende Verständnis von Case Management meint Begleitung und Unterstützung der Patientinnen und Patienten über längere Zeit. Diese Form des Case Managements unter Beizug weiterer Methoden der Sozialen Arbeit wird oft als intensives Case Management oder sozialtherapeutisches Case Management bezeichnet.

 

Wo liegt das Problem?

In der öffentlichen Diskussion wird Case Management im Gesundheitswesen als Mittel der Wahl genannt, wenn es ums Kostensparen geht. Es sollen Doppelspurigkeiten beseitigt werden, die Versorgung zielgerichteter und der Lebensstil der Patientinnen und Patienten optimiert werden. Patientenzen­triertes, die Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten förderndes Case Management ist nicht ‹gratis› zu haben. Es erfordert gute Kenntnisse der Versorgungslandschaft und der versicherungsrechtlichen Möglichkeiten sowie methodisches Wissen, wie Menschen unterstützt werden können, damit sie auch mit einer Erkrankung oder Behinderung ein möglichst befriedigendes Leben führen können.

 

Das heisst konkret?

Ein patientenzentriertes Case Management bedingt eine vertiefte und umfassende Bearbeitung der sozialen und gesundheitlichen Situation der Patientin oder des Patienten sowie unter Umständen auch eine Intervention in ihrem sozialen Umfeld. Das ist weit mehr, als ein Case Management leisten kann, das rein auf Koordination ausgerichtet ist.
Case Management als Methode der Sozialen Arbeit ist eben eine Methode und kein Sparprogramm. Es ist, zumindest im Grundsatz, auch auf mehreren Ebenen tätig, nicht nur auf der Ebene des Einzelfalls. Bei Bedarf wird auch bei übergeordneten Stelle interveniert, wenn die notwendige Versorgung nicht gewährleistet ist. Doch in der Praxis geschieht das eher nicht.
Ein Case Management, das die Übergänge zwischen ambulant und stationär, eine stabile Situation und die Lebenswelt der Patientinnen und Patienten im Blick hat, müsste eigentlich in Zukunft unabhängig von der stationären Einrichtung erfolgen. Interessant als Modelle sind Settings, in denen das Case Management nicht in einem Spital stattfindet, sondern als Angebot einer unabhängigen Stelle für Patienten und Patientinnen in komplexen sozialen und gesundheitlichen Situationen realisiert wird. Verschiedene Projekte in diese Richtung sind bereits gestartet oder in Planung.

 

Eine gute interprofessionelle Zusammenarbeit gewinnt angesichts der demografischen Alterung und der zunehmenden Zahl chronisch Kranker in komplexen Behandlungs- und Betreuungssituationen an Bedeutung. Nach welchen Kriterien sollte eine solche Zusammenarbeit geregelt sein?

Primär muss es bei der interprofessionellen Zusammenarbeit darum gehen, sie so zu organisieren, dass die Versorgung der Patientinnen und Patienten möglichst effektiv und zu deren Wohl erfolgt. Die Versorgungsqualität steht im Vordergrund – und nicht die Frage, welche Profession den besten Platz erhält. Wichtig ist, dass alle Berufsgruppen eingebunden sind, die es für eine bestimmte Versorgung braucht. Allerdings trifft man derzeit im Management von Organisationen des Gesundheitswesens da und dort auf die Haltung, dass die Sozialarbeit gar keinen wesentlichen Beitrag leiste und dass andere Berufsgruppen die zentralen Aufgaben der Sozialen Arbeit gleich gut erledigen könnten. Das ist nicht das, was unter interprofessioneller Zusammenarbeit zu verstehen ist, sondern torpediert diese. Gute interprofessionelle Zusammenarbeit ist beispielsweise im Bereich der Palliative Care zu finden, die aber auch gesetzlich verankert ist.

 

Wie soll es weitergehen?

Wenn man die Entstehung von gesundheitlichen Belastungen als ein enges Zusammenwirken von biologischen, psychischen und sozialen Dimensionen versteht, dann braucht es nun mal auch die Bearbeitung der sozialen Dimension. Soll sich doch die gesundheitliche Situation von Patienten und Patientinnen stabilisieren oder gar verbessern. Es ist wichtig, dass sich Sozialarbeitende für diese Sichtweise auch politisch einsetzen, wie dies zum Beispiel der Schweizerische Fachverband «sages» tut. Der Verband Soziale Arbeit im Gesundheitswesen vereint Personen und Institutionen der Schweiz, die professionelle Soziale Arbeit in den Aufgabenfeldern der gesundheitlichen Versorgung und im Kontext von Public Health leisten.

 

Weiterführende Informationen:

 

Studie zur Spitalsozialarbeit (BASS, 2013):
www.buerobass.ch/fileadmin/Files/2013/SFSS_2013_Bestandsaufn_Spitalsozialarbeit_Bericht.pdf

 

Zu interprofessioneller Zusammenarbeit (Spectra, 2017):
www.spectra-online.ch/spectra/themen/linterprofessionelle-zusammenarbeit-bedingt-dass-zustaendigkeiten-und-verantwortlichkeiten-geklaert-sind-r-571-10.html

 

Nationaler Gesundheitsbericht 2015, Fokus chronische Erkrankungen, Seite 190-220 (Schweizerisches Gesundheitsobservatorium):
www.obsan.admin.ch/sites/default/files/publications/2015/gesundheitsbericht_2015_d.pdf

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