Im Spiegelland

Im August 2001 rettete der norwegische Kapitän Arne Rinnan 433 Flüchtlinge von einer sinkenden Fähre vor Indonesien. Bevor er die Weihnachtsinsel, die zu Australien gehört, ansteuern konnte, wurde sein Schiff von australischen Soldaten geentert. Australien wollte nicht, dass die Flüchtlinge australischen Boden betreten. Denn dann hätten sie deren Asylgesuche prüfen müssen.
Der damalige Premier John Howard fand daraufhin die folgende Lösung: Die Flüchtlinge sollten auf der Pazifikinsel Nauru untergebracht werden. Dafür wurden die Inselbewohner von Australien reichlich entschädigt. In den darauffolgenden Jahren wurden die Bedingungen im Flüchtlingslager immer wieder scharf kritisiert. 2007 – nach der Wahlniederlage von John Howard – wurden die Lager in Nauru geschlossen.
Seit 2012 sind die Nauru Detention Centres wieder geöffnet. Vor zwei Wochen veröffentlichte der ‹Guardian› Dokumente, die über Missstände in den Lagern berichteten, insbesondere über Gewalt und sexuelle Übergriffe. Überproportional davon betroffen sind die dort lebenden Kinder. Premierminister Malcolm Turnbull hat eine Untersuchung versprochen.

In der Nähe des Bahnhofs Como ist in den letzten Wochen ein wildes Flüchtlingslager entstanden. Rund 500 Flüchtlinge campieren dort im Park. Die Tessiner SP-Grossrätin Lisa Bosia, die mit ihrer Organisation Firdaus Flüchtlinge berät, erhebt schwere Vorwürfe. Die Grenzwächter würden die Leute systematisch zurückschicken, auch wenn sie sagen, dass sie ein Asylgesuch stellen wollen. Der Tessiner Lega-Staatsrat und ehemalige SVP-Bundesratskandidat Norman Gobbi bestätigte gegenüber der ‹Sonntags-Zeitung›, es würden «nur noch glaubwürdige Asylgesuchsteller» ins Land gelassen.  Bundesrat Ueli Maurer, der für das Grenzwachtkorps zuständig ist, meint gegenüber der ‹Schweiz am Sonntag›: «Wenn ein Asylgesuch berechtigt ist, wird es selbstverständlich behandelt. Die Leute werden von der Grenzwache dem Staatssekretariat für Migration übergeben». Das Problem: Der Grenzwächter oder die Grenzwächterin ist nicht befugt, diese Entscheidung vorzunehmen. In Artikel 6a des Asylgesetzes ist klar festgehalten: Über Gewährung oder Verweigerung des Asyls entscheidet das Staatssekretariat für Migration.  In Artikel 18 steht, dass es als Asylgesuch gilt, wenn eine Person zu erkennen gibt, dass sie Schutz vor Verfolgung sucht. Das heisst: Wer über die Grenze kommt und nach Asyl verlangt, stellt ein Gesuch. Das ordentlich behandelt werden muss, auch wenn es chancenlos ist.

Im Juni hatte der österreichische Aussenminister Sebastian Kurz die Flüchtlingspolitik von Australien noch als Vorbild genannt. Er schlug vor, dass man auf Mittelmeerinseln Flüchtlingslager errichten soll. Die Idee von Flüchtlingslagern im Ausland ist nicht neu. So forderte Christoph Blocher 2004, die Schweiz solle in Afrika Asylcamps einrichten. Dieselbe Idee hatte damals auch SPD-Mann Otto Schily. Begründet wird das dadurch, dass man den Flüchtlingen die gefährliche Flucht ersparen will. Die eigentliche Motivation ist vermutlich eine andere. Man will das Elend möglichst weit weg von sich haben und nicht sichtbar vor den Toren wie in Como oder Calais. Auf einer abgelegenen Insel oder in der Wüste sind denn auch keine lästigen Journalisten oder Grossrätinnen. Abwesend ist dann aber vielleicht auch was anderes, wie Nauru zeigt. Rechtsstaatlichkeit, Menschlichkeit, fundamentale Prinzipien.

Am Dienstag war ich in Appenzell auf einem Podium unter anderem zum Nachrichtendienstgesetz. Bis anhin sah ich diese Diskussion relativ entspannt. Ich bin zwar dagegen, anerkenne aber durchaus auch Punkte dafür. Zwei Aussagen – eine auf dem Podium und eine aus dem Publikum – haben mich allerdings irritiert. Noch nie in ihrer Geschichte – weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg – sei die Schweiz so bedroht gewesen wie heute, sagte Regierungsrat Martin Bürki dem Publikum, das zu dieser Aussage zustimmend nickte. Bei seiner Analyse der Weltlage gingen die Terrorjahre der 1970er genauso vergessen, wie dass der separatistische Terror in Frankreich und in ganz Europa mehr Tote gefordert hat als der islamische Terror seit 9/11. Ganz zu schweigen davon, dass Millionen von Menschen in den beiden Weltkriegen gestorben sind. Und die doch reale Bedrohung durch die schlimmste Diktatur der Geschichte, selbst wenn die Schweiz ihr in einer Mischung aus Glück, Pragmatismus und Opportunismus entgehen konnte. Einer aus dem Publikum meinte dann, es sei ihm lieber, wenn neun Unschuldige verurteilt würden, wenn dafür ein Schuldiger gefasst sei. Wegen der Sicherheit. Im 18. Jahrhundert postulierte der englische Jurist William Blackstone das exakte Gegenteil: «Es ist besser, dass zehn Schuldige entkommen, als dass ein Unschuldiger leidet». Bereits im römischen Recht galt das Prinzip, dass ein Angeklagter nicht verurteilt werden darf, wenn Zweifel an seiner Schuld bestehen. Über 2000 Jahre Rechtsphilosophie werden über Bord geworfen. Aus Angst vor dem Terrorismus.
Am Mittwoch berichtete ‹Watson›, wie französische Polizisten am Strand von Nizza zwangen, ihr Burkini-Oberteil auszuziehen. Das dazugehörige Bild erinnert an die iranische Sittenpolizei, einfach umgekehrt. Sittenwächter im Spiegelland.

Der Terrorismus sei am Gewinnen, sagt Rechtsphilosoph Marcel Niggli in der WOZ: Aber «nicht wegen der Anschläge, sondern wegen der Reaktionen darauf. Der Rechtsstaat wird eingeschränkt, der Ausnahmezustand verhängt, Menschen kontrollieren und misstrauen einander. Wir verteidigen ein Weltbild, indem wir es aufgeben.» Derweil verliert der IS an Gebieten in Syrien und im Irak.

«Das einzige, was man fürchten muss, ist die Furcht selbst», sagte der US-Präsident Franklin D. Roosevelt. Furcht ist das Ziel des Terrors. Weil sie destabilisierend ist und die Gesellschaft verändert, nie zum Guten. Der IS und seine Attentate sind beängstigend. Weil sie so destruktiv und nihilistisch erscheinen. Weil sie auf maximale Opferzahl ausgerichtet sind. Weil Einzeltäter ohne Anlass plötzlich zur Waffe greifen und zuschlagen. Im Zug oder im Restaurant oder an einer Feier.
Dennoch ist es wichtig, die Relationen zu wahren, wie der Journalist Jörg Schindler in einem Interview mit dem ‹Migros-Magazin› darlegte: «In Deutschland gibts jedes Jahr 3000 Verkehrstote, dem gegenüber stehen zwei Terrortote in den letzten 15 Jahren». Natürlich könne man es nicht vergleichen. Aber der Aufwand, der seit 9/11 investiert werde, um den Terror zu bekämpfen, «gibt es so an keiner anderen Stelle, auch nicht bei der organisierten Kriminalität, dem Rechtsextremismus oder der Wirtschaftskriminalität, die indirekt vermutlich mehr Menschen auf dem Gewissen hat als alle Terroristen zusammen.» Er plädiert für mehr Besonnenheit, mehr Rationalität und mehr Aufklärung: «Durch mehr Gelassenheit nehmen wir dem Schrecken die Spitze (…). Heute muss sich ein Terrorist ja nur irgendwo hinstellen, «Allahu Akbar» rufen, und fünf Leute kriegen einen Herzinfarkt vor Schreck. Ein Paradies für Terroristen. »
Mehr Gelassenheit und mehr Besonnenheit sind wohl sinnvoll. Vielleicht auch bei mir, wenn ich wieder einmal fürchte, dass der Firnis der Zivilisation reisst.

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