Sehnsucht nach dem Echten

 

Er kam aus dem Nichts und siegte. Jeremy Corbyn, 30 Jahre lang Links-aussen-Hinterbänkler, Veganer, Sozialist, EU- und Nato-Kritiker, Sandalen- und Bartträger ist neuer Labour-Chef in England geworden. Der Sieg war so deutlich wie zu Beginn unerwartet. Die Kandidierenden des Partei-Establishments abgestraft. Über die Gründe für Corbyns Sieg wird im Moment eifrig spekuliert. Der offensichtlichste: Corbyn ist die personifizierte Antithese zu Tony Blair. Im Programm wie im Habitus.

Die Partei, die Wählerinnen und Wähler haben sich von New Labour abgewandt. Sie haben genug vom neoliberalen Kurs. Und sie haben genug von rhetorischer Geschliffenheit, von PR-Blabla und Politik nach Umfragewerten.

 

Ob Corbyn die Labour-Party nach der Wahlniederlage zum Erfolg bringen kann, ist mit einigen Fragezeichen versehen. Einige Beobachter haben ein politisches Déjà-vu. 1980 wählte Labour den Parteilinken Michael Foot zum Vorsitzenden. Das Resultat war eine krachende Wahlniederlage im Jahr 1983 und eine Parteispaltung. Der auf ihn folgende Neil Kinnock war in den nächsten Wahlen gegen Thatcher und Major ebenso erfolglos, wenn auch mit leicht steigenden Wähleranteilen. Die Erfahrung der 1980er brachte viele in der Labour-Party, die nicht dem ganz linken Flügel angehörten, dazu, dass sie die Niederlagen satt hatten. Zumal der linke Flügel auch doktrinäre und sektiererische Züge zeigte. Was nützt das linke Programm, wenn man in der Opposition sitzt und nichts auszurichten hat?

 

Dieses Gefühl hat Labour stark geprägt und den Aufstieg von New Labour begünstigt. Immerhin gewinnen wir jetzt wieder, dachten sich viele und bissen auf die Zähne. Immerhin besser als die Tories. Immerhin wird der Mindestlohn etwas erhöht und der Kampf gegen Kinderarmut ein wenig aufgenommen. Der Rest ist bekannt. Nachdem die Wirtschaft nicht mehr brummte, kam New Labour ins Schlingern. Gordon Brown wurde nicht mehr wiedergewählt. David Cameron und die Tories kamen wieder an die Macht. Der glücklose Ed Miliband heimste bei den Wahlen gegen Cameron ein überraschend schlechtes Resultat ein. New Labour hat auch inhaltlich viel an Glamour verloren. Den Parteimitgliedern und vielen Wählerinnen und Wählern passte die Unterstützung des Irakkriegs nicht. Auch die fehlende Distanz zur City of London – dem englischen Äquivalent zur Wall Street – half nicht. Nach 13 Jahren Labour-Regierung, schreibt der englische Politologe Jeremy Gilbert, sei das Land zwar ein wenig besser dran gewesen als während der Tory-Regierung, aber die Macht von Bürgerinnen und Bürgern und Arbeitnehmenden sei nicht gestärkt worden. Im Gegenteil: Die Verteilung von Macht und Wohlstand wurde gar nicht mehr in Frage gestellt.

 

Das Problem von Corbyn: Um eine politische Diskussion und eine politische Kultur zu verändern, um die Mitte der Gesellschaft wieder mehr nach links zu rücken, braucht es Zeit. Der intellektuelle Siegeszug der Neoliberalen hat auch nicht erst gestern begonnen. Die nächsten Wahlen sind allerdings schon bald. Überlebt Corbyn politisch eine Wahlniederlage? Sind seine Konzepte, seine Ideen genügend attraktiv, um längerfristig zu wirken? Schafft er es, dass die Bewegung, die ihn ins Amt gebracht hat, jetzt auch längerfristig mitarbeitet und Labour mitprägt? Oder droht ihm das gleiche Schicksal wie Michael Foot? Dass letzteres vermutlich realistischer ist, heisst nicht, dass ich nicht auch auf ersteres hoffe.

 

Der Erfolg von Corbyn erinnert auch an den Erfolg von Bernie Sanders, dem amerikanischen Präsidentschaftskandidaten, der ebenfalls auffallend viel Zulauf hat. Auch hier hat ein älterer Herr, der sich viel linker als der Mainstream zeigt, Verteilungsgerechtigkeit thematisiert und sich sogar als demokratischen Sozialisten bezeichnet, einen unerwarteten Erfolg. Einer, der so gar nicht wie ein Kandidat aussieht, wie ihn sich ein Politberater oder eine Politberaterin wünschen würde.

Auch hier ist es wohl die Authentizität, die Sehnsucht nach dem Echten, dem Unverfälschten, dem Nicht-Abgeschliffenen, die sich zeigt. Die ich auch gut nachvollziehen kann. Auch ich habe immer mehr Mühe mit den allgemein gehaltenen Politikerfloskeln (nicht ohne sie selber schon sehr oft abgesondert zu haben). Gestalten statt verwalten, pragmatisch und nicht ideologisch. Und bei all diesen BrückenbauerInnen im Parlament wundert man sich zuweilen, warum nicht bessere Kompromisse zustande kommen. Vielleicht, weil sie vor lauter Brücken den Fluss nicht mehr sehen?

 

Seit Jahren wirft man der Linken – und vor allem der SP – vor, sie sei zu abgehoben, zu akademisch und kompliziert. Sie solle sich ein Beispiel an der SVP nehmen und eine einfache Sprache brauchen und auf kürzere Texte setzen. Nun hat die SVP durchaus ein Talent für Zuspitzung und Skandalisierung (im aktuellen Wahlkampf setzt sie allerdings mehr auf Schlager und Spass). Aber es ist nicht so, dass sie nur in Schlagzeilen kommuniziert. Auf jeden Fall geht die SVP durchaus davon aus, dass ihre WählerInnen mehr als zwei Sätze lesen können und wollen, sonst würde sie auch nicht auf eine Zeitung – das Extrablatt – als Werbemittel setzen. Und vielleicht sollten wir weniger darauf setzen, wie sich etwas verkauft und mehr darauf, was wir eigentlich sagen wollen.

 

In der NZZ schrieb Jan Flückiger am Montag in einem ganzseitigen Artikel: «Die SP politisiert an der Basis vorbei.» Der Grund: Zum einen die nicht ganz taufrische Analyse, dass die SP nicht mehr von Arbeitern, sondern eher von Akademikern gewählt wird. Zum anderen: Die Initiativen, die teilweise bei den eigenen Wählerinnen und Wählern nicht vollumfänglich unterstützt wurden. 45 Prozent der SP-Wählerinnen und Wähler sagten Nein zur Mindestlohninitiative, 34 Prozent Nein zur 1:12-Initiative und 36 Prozent Nein zur Öffentlichen Krankenkasse. Dagegen hätten 16 Prozent der SP-AnhängerInnen Ja zur Masseneinwanderungsinitiative gestimmt. Das Fazit: Die SP-Spitze und die SP-ExponentInnen seien viel zu links und damit meilenweit von der Basis entfernt.

Nun ist diese Analyse freilich ein wenig zweifelhaft. Schliesslich stimmen auch FDP- und CVP-AnhängerInnen und sogar SVP-WählerInnen häufig nicht so, wie die Partei will. Gerade der Masseneinwanderungsinitiative stimmten 40 Prozent der FDP-WählerInnen laut Vox-Analyse zu. Das hindert die FDP offensichtlich nicht daran, auf Erfolgskurs zu sein.

Zum zweiten gab es den von der NZZ diagnostizierten Linksrutsch bei der SP nie. Die SP hat – im Gegensatz zu ihren ausländischen Schwesterparteien – nie den Abstecher auf den dritten Weg gemacht. Und muss daher auch nicht zurückrudern. Heftige Flügelkämpfe bleiben aus. Die Differenzen zwischen eher linken und eher rechten ExponentInnen sind – wie der Blick auf Smartvote zeigt – nicht riesig gross. Ob die SP an der Basis vorbeipolitisiert oder nicht, zeigen nicht Einschätzungen von liberalen Kommentatoren der NZZ, die naturgemäss wenig Freude an linker Politik haben, und auch nicht unbedingt Abstimmungsresultate. Sie wird sich allerdings zeigen bei den Wahlen am 18. Oktober. Was sich ebenfalls zeigen wird, ob es die SP schafft, die vielen Freiwilligen aus dem Basis- und Mobilisierungswahlkampf auch nach den Wahlen noch weiter aktiv zu behalten. Denn erst dann zeigt sich, ob die SP ein Problem mit der Basis hat.

 

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