Schreckgespenst? Tatsache!

Der Aufschrei war so gross wie vorhersehbar. Die Rektoren der Pädagogischen Hochschulen schlagen in einem Strategiepapier vor, dass die LehrerInnen-Ausbildung künftig mit einem Master abgeschlossen werden soll. Dazu gehören auch die Kindergarten-LehrerInnen. Und schon ging es los: «Gahts no». Warum sollen denn alle Berufe akademisiert werden? Das ist doch nicht nötig, heisst es. Nun kann man selbstverständlich infrage stellen, ob es sinnvoll ist, dass die LehrerInnen-Ausbildung verlängert werden soll, zumal dies auch Mehrkosten auslösen wird.

 

Was mir aber auffällt: Der Aufschrei scheint mir immer besonders gross, wenn es um typische Frauenberufe geht, die aufgewertet werden sollen. Auch beispielsweise bei der Pflege. Ich werde den Verdacht nicht los, dass es letztlich um den verbreiteten Glauben geht, dass man zum Füdli putzen und Kinder hüten doch keine besonderen Kenntnisse braucht.

 

Das duale Bildungssystem ist die grosse heilige Kuh in der schweizerischen Bildungslandschaft. Und wie häufig bei heiligen Kühen wird auch viel geheuchelt. Zum Beispiel von all jenen, die zwar das duale Bildungssystem loben, für sich und die eigenen Kinder aber selbstverständlich nur die Universität infrage kommt. Eine heilige Kuh auch, weil das duale Bildungssystem komplett unbestritten ist. Aber trotzdem stets getan wird, als sei es ständig durch realitätsferne ElfenbeinturmbewohnerInnen unter Beschuss. Dank dem dualen Bildungssystem haben wir hervorragend ausgebildete Berufsleute und eine praxisnahe Ausbildung nahe am Arbeitsmarkt. Und die Betriebe engagieren sich direkt in der Ausbildung. Gerade auch schulmüde Jugendliche haben dadurch eine Perspektive, die es in anderen Ländern nicht gibt. Das alles wird aber nicht infrage gestellt, wenn man beispielsweise darüber nachdenkt, ob eine tiefe MaturandInnenquote sinnvoll ist und ob man die Ausbildung eines Berufs verändern soll.

 

Das vielbeschriene Schreckgespenst der Akademisierung ist nämlich schon lange Tatsache. Seit der Gründung der Fachhochschulen in den 1990er-Jahren absolvieren immer mehr Menschen in der Schweiz ein Studium. Denn mit den Fachhochschulen ist ein Studium auch mit Berufslehre möglich und nicht nur mit der gymnasialen Matur. Damit wurde unser Bildungssystem durchlässiger, die Chancengleichheit erhöhte sich. Die Schweiz stand und steht hier nicht sonderlich rühmlich da. Die soziale Mobilität durch Bildung funktioniert nur beschränkt. Kinder aus Schwamendingen machen selten eine Matur. An der Goldküste sind jene, die nicht ans Gymnasium gehen, die grosse Ausnahme. Dies nicht, weil sie klüger wären. Sondern weil die soziale Schicht immer noch für den (akademischen) Bildungserfolg entscheidend ist: Die Kinder von AkademikerInnen werden später selber welche. Die Kinder von ArbeiterInnen oder MigrantInnen in der Regel nicht. Das hat sich durch die Fachhochschulen verbessert. Das praxisnahe Studium an den Fachhochschulen ist aber auch für MaturandInnen attraktiv. Damit sind die Fachhochschulen eine sinnvolle Ergänzung zu den Universitäten. Und: Auf dem Arbeitsmarkt sind diese Studierten – ob Fachhochschule oder Universität – offenbar gesucht. Dass die neue Zuwanderung häufig hochqualifiziert ist, beweist dies ebenfalls. Die Akademisierung wird also vom Arbeitsmarkt verlangt – und nicht von überambitionierten Helikoptereltern.

 

Das heisst selbstredend nicht, dass es nicht auch sinnvoll ist, in die höhere Berufsbildung zu investieren. Und gerade hier ist zentral, dass das Portemonnaie nicht ausschlaggebend sein darf, wer eine berufliche Weiterbildung machen kann. Wenn man etwas für das duale Berufsbildungssystem tun will, muss man genau hier ansetzen.

 

Was hat das alles mit den KindergärtnerInnen zu tun? Nun, eigentlich nichts. Aber zuweilen lohnt es sich, ein System neu zu denken. Als die erste Pisa-Studie herauskam, pilgerte die halbe Welt nach Finnland, um das Geheimnis des finnischen Erfolgs zu ergründen. So auch ich in einer gemeinderätlichen Kommission. Nun sind Bildungserfolge und -systeme nicht immer einfach kopier- und erklärbar. Aber eines beeindruckte mich: Der Vertreter der finnischen Behörden erklärte nämlich, dass der LehrerInnenberuf in Finnland ein sehr hohes Ansehen geniesse. Im Gegensatz zur Schweiz, wo Lehrerinnen und Lehrer häufig als FerientechnikerInnen oder Jammeri verschrien werden und wo immer wieder LehrerInnenmangel herrscht, ist in Finnland der LehrerInnenberuf begehrt. So begehrt, dass eine strenge Selektion vorgenommen werden kann, nur einer von zehn Interessierten schafft es am Schluss. Und gleichzeitig, so der finnische Vertreter, hätten von allen Lehrerinnen und Lehrern jene am meisten Prestige, die die kleinsten Kinder unterrichten. Pädagogisch sei dies nämlich am anspruchsvollsten. Und man wisse aus der Forschung, dass gerade in der frühen Kindheit die entscheidenden Weichen gestellt werden. Das habe ich mir vorher nie so überlegt, es scheint mir aber eine Überlegung wert.

 

Wir müssen jenen, die eine so wichtige und prägende Aufgabe übernehmen, jene also, die mit Menschen und für Menschen arbeiten, seien es Pflegefachpersonen, PolizistInnen oder eben LehrerInnen, die nötige Wertschätzung entgegenbringen. Sie retten Leben, sie prägen Persönlichkeiten, sie haben einen entscheidenden Einfluss. Im Zuge der Digitalisierung und des Fachkräftemangels wird oft von fehlenden InformatikerInnen und IngenieurInnen gesprochen. Man brauche mehr MINT-Fächer und Informatik schon in der Primarschule. Völlig einverstanden. Man darf dabei nicht vergessen, dass wir in der Pflege – und ganz allgemein in den Care-Berufen – ebenfalls einen grossen Fachkräftemangel haben. Der sich in der Zukunft noch verstärken wird. Menschliche Beziehungen, Empathie – genauso wie Kreativität und kritisches Denken – sind nur schwer automatisierbar. Und das wird auch von niemandem gewünscht. Trotzdem kommt keiner jemals auf die Idee, dass Care unbedingt im Lehrplan aufgenommen werden muss. Vielleicht eben gerade, weil es halt oft Frauenberufe sind. Und diese Fähigkeiten als solche gelten, die die Frauen qua Gene sowieso schon einfach haben.

 

Für all dies braucht es nicht unbedingt ein Masterstudium. Aber darüber nachzudenken, dass eine anspruchsvolle Aufgabe auch eine anspruchsvolle Ausbildung braucht, muss auch nicht gleich verlacht werden. Denn für die Arbeit mit unseren Liebsten, seien es Kinder oder Angehörige, will man doch das Beste. Und vielleicht auch die Besten.

 

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