«Säg öppis zu de Finanze, das beruhigt d’Lüt immer»

Wie aus einer Jugendstrafmassnahme eine politische Karriere wurde, die ausgerechnet der zugezogene, ewige Querulant zu Fall bringt, handelt der genüssliche Soloabend «Heute Gemeindeversammlung» von Mike Müller auch. 

 

Thierry Frochaux

 

Raoul Furrler ist vom Typ geschäftiger Strippenzieher, als altgedienter Dorfvorsteher nur dem Gemeindewohl verpflichtet und natürlich fair – wo es Sinn macht. Die Gemeindeinteressen sind ihm im Zweifel näher als die Befehlsausgaben der nationalen Parteispitze, sein grösster Feind ist der Kanton. Stolz darauf, kein Gstudierter zu sein, packt er jedes Problem hemdsärmlig an, was er mit seinem betont kumpelhaften Habitus unterstreicht. Auf dem Weg zum Podium der voll besetzten Mehrzweckhalle grüsst er hier, witzelt dort und mahnt einen Dorfbewohner auf dem Balkon an seine Pflichten: «Wer cha i dere Gmeind läse und schriibe, sött au es Amt übernäh» und fügt an – «Friedensrichter isch ja au nöd so ne Sach». Jovial ist das passende Fremdwort für seine Art. Denn eine Tendenz in Richtung überheblichen Selbstbewusstseins ist beispielsweise in seinen Witzen erkennbar, die keinerlei Scheu vor Klischees kennen und – bei einer Gemeindeversammlung «unter uns» – braucht er in seinen Äusserungen auch nicht übertrieben vorsichtig bezüglich der Modeerscheinung von Städtern, der political correctness, zu sein.

 

Wohlwollender Druck

Die Gemeinde bleibt selbstverständlich namenlos, die verhandelten Probleme sind archetypisch. Beispielsweise der Antrag der Vorsteherin der Schulkommission mit obligatem Doppelnamen für eine Subventionierung von Kindergeburtstagen, damit die Chancengleichheit wieder hergestellt werden kann. Der Querulant Habegger votiert aus Lärmschutzgründen für ein generelles Kindergeburtstagsverbot, scheitert aber genauso wie die Antragsstellerin an den beiläufigen Suggestivdrohungen des Gemeindemunis. Wie er Resultate nach seinem Gusto zurechtbiegt, hat er schon während seiner Zeit als Stimmenzähler geübt.

 

Eine währschafte Prügelei mit der Nachbarsdorfjugend brachte ihm als jungen Mann diese Strafaufgabe ein. Seine kreative Zählart flog auf, als es um ein Partikularinteresse ging, dem die überwiegende Mehrheit der Anwesenden nicht folgen wollte, und er folglich vor der Wahl stand: Klage oder Kandidatur für den Gemeinderat. Denn die Ämter in einer solchen Durchschnittsgemeinde sind überhaupt nicht begehrt: «Die Übermotivierte – schwierig, aber wie motiviert me die Unmotivierte?», fragt er, ohne dass ein Ausformulieren der Antwort nötig wäre: Wohlwollender Druck. Mit diesem bringt er den Gemeindeschreiber Giannini dazu, die Umordnung der Traktandenliste zuzulassen. Im Notfall hat er die Folienliebhaberin und Finanzchefin Roth in der Rückhand, die er urplötzlich auffordert: «Säg öppis zu de Finanze, das beruhigt d’Lüt immer». Wobei beruhigt in Furrlers Lesart ein dermassen dehnbarer Begriff ist, dass er hauptsächlich mundtot machen meint.

 

Vorsicht vor der Vertrauensfrage

Das heikle Geschäft ist die Gemeindefusion mit den Nachbarn, also wird alles andere vorgezogen, auch die Einbürgerung von Herrn Stojadinovic. Dieser besteht den Test, der aus Fragen besteht wie: Mit welchem Ski erfuhr sich Bernhard Russi die olympische Goldmedaille in Sapporo 1972? Das Hauptproblem von Stojadinovic ist seine mangelnde Bereitschaft, dem Jugoklischee zu entsprechen. Auf die Frage nach seiner Verbindung zu seiner Heimat meint er im breitesten Bärndeutsch: «Momou, minr Heimat exischtiert scho no, minr Äutere wohne no gäng ir Lorräne.» Mit allen Stimmen gegen Habegger geht dieses Einbürgerungsbegehren durch, nicht zuletzt, weil Stojadinovic bereit ist, auf das Sonderzeichen auf dem letzten Buchstaben fortan zu verzichten, die Gemeindesoftware wäre dazu sowieso nicht in der Lage. Also wird aus der Not eine Tugend gemacht und der seit Säuglingstagen in Bern wohnhafte Stojadinovic als grosszügiger Mensch vorgestellt. Ein Gast aus Fiesch mit klar verständlichem Wolliserdiitsch und einem aus dem Muotital mit kaum dechiffrierbarem Schwyzerdütsch verkaufen ihre Gemeinden als künftige Schulskilagerdestination: Ausgeklügelte IT schlägt zuletzt den billigen Jakob. «Mit IT chasch halt de Lüt jede Scheiss verchaufe», schliesst er lapidar. Jetzt aber Gemeindefusion: Komplett, aber sowas von komplett uneigennützig und darüber hinaus total transparent spricht der Gemeindepräsi für die Fusion, obschon die Wahl des neuen Wappens – hier hat man die Forelle, dort ein Fischernetz – eine noch ungelöste Frage darstellt. Dafür ist alles andere schon fast in trockenen Tüchern, bis Habegger das Wort ergreift und es zur Vertrauensfrage kommt…

 

Mike Müller in allen Rollen und Dialekten ist so überzeugend, wie es sein Text und die Regie von Rafael Sanchez verstehen, Brisanz und Belanglosigkeiten des Heimatstolzfunktionierens in einer spannenden Schwebe zu halten. Das Stück ist genügend bösartig, ohne richtig verletzend zu werden, und im Resultat schlechterdings köstliches Kabarett.

 

«Heute Gemeindeversammlung», bis 15.10., Casinotheater, Winterthur. Tournéedaten: www.mike-mueller.ch

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