Reizthema Migration

Seit einigen Wochen tobt die Diskussion um den UNO-Mi­grationspakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration. Die Aufregung war dermassen gross, dass man hätte erwarten können, mit der Unterzeichnung würde das ganze Regelwerk für Migration neu aufgemischt. Dementsprechend dramatisch gestaltete sich teilweise auch die Berichterstattung. Mit dem Pakt entgleite den Ländern die Kontrolle über die Zuwanderung, er würde eine massive Sogwirkung auslösen, und sogar unsere Meinungsfreiheit sah man gefährdet. So war etwa in der ‹Basler Zeitung› zu lesen, der Pakt führe zu einer Überwachung unserer Medien, die Verbreitung von xenophoben Aussagen würde mit Sanktionen belegt und: «Es wäre in der Schweiz das erste Regelwerk, in welchem festgehalten wird, wie das Volk zu denken, ja gar zu fühlen hat.» Ich hatte das UNO-Dokument damals noch nicht gelesen, doch konnte ich mir nur schwer vorstellen, wie mit dessen Unterzeichnung eine Gefühlsdiktatur errichtet werden soll. Dass eine xenophobe (laut Duden ausländerfeindliche oder rassistische) Berichterstattung grundsätzlich nicht erlaubt sein soll, kam mir hingegen gar nicht so falsch vor.

 

Wie dem auch sei, die Aufregung war gross, die Schweiz blieb der Konferenz, die letzte Woche in Marrakesch stattfand, zusammen mit ein paar wenigen Ländern wie Italien, Polen, Ungarn oder Kroatien schlussendlich fern (der italienische Innenminister Matteo Salvini nahm sich die Schweiz diesbezüglich als Vorbild).

 

Nachdem dann auch die ‹Arena› ihre Sendezeit dem Thema gewidmet hatte, war ich dermassen verblüfft ob einigen angeblichen Wirkungen des Paktes, dass ich sodann beschloss, das Papier einmal selbst zu lesen. Andreas Glarner, Nationalrat SVP, warnte etwa, der Pakt würde eine Migration unbekannten Ausmasses auslösen, mit dem Pakt wolle man halb Afrika hierherholen und er stelle ein «gigantisches Umsiedlungsprogramm» dar. Herr Glarner rechnete dann auch eindrücklich vor, in welcher Zeit die Anzahl in Europa aufgenommener Menschen in Afrika gleich wieder gezeugt würden: «In 18 Tagen stehen sie wieder da», sagte er und erweckte damit das Bild von einem überrannten Europa, die Aufnahme von Menschen als einen Tropfen auf den heissen Stein.

 

Ich schaute mir den Pakt also an und war nach der Lektüre doch ziemlich ernüchtert: Die Brisanz dieses Dokuments ist nicht besonders hoch, eine Unterzeichnung würde an der bestehenden Situation in der Schweiz erst einmal nichts ändern. Hingegen stehen da einige Punkte drin, die überaus sinnvoll, richtig und wichtig sind. Im Grunde anerkennt der Pakt die Migration als Realität, erkennt, dass die Herausforderung der weltweiten Migration nicht von den Staaten im Alleingang gelöst werden kann und fördert deshalb die Zusammenarbeit zwischen den Staaten. Er möchte die grundlegenden Menschenrechte für Migranten sichern, Menschenhandel und die Schleusung von Migranten bekämpfen, reguläre Migration erleichtern, gleichzeitig aber auch irreguläre Migration reduzieren. An mehreren Stellen macht er deutlich, dass der globale Pakt rechtlich nicht bindend ist und die Souveränität der Staaten wahrt.

 

Die Umstände für Menschen, die migrieren, sollen also verbessert werden (zumindest mit der Wahrung der grundlegenden Menschenrechte). Das Argument der Gegner, dass eine Verbesserung der Migrationsbedingungen eine Sogwirkung mit sich bringen würde, ist angesichts der Berichte, die man aus libyschen Flüchtlingslagern kennt, nicht nur äusserst menschenverachtend, sondern ignoriert auch die Tatsache, dass sich Menschen trotz Kenntnis dessen, was sie erwartet, auf den Weg machen, wenn die Verzweiflung gross genug ist. Lässt man das Argument der Würde des Menschen mal aussen vor (was eigentlich das Hauptargument sein sollte), kann es ausserdem im Interesse von niemandem sein, durch prekäre Zustände auf der Flucht Traumata hervorzurufen. Denn je grösser das erlebte Elend, desto geringer die Chance der Betroffenen, je ein normales Leben führen zu können (sei es in Europa oder im Ursprungsland) und irgendwann einmal auf eigenen Beinen zu stehen. Es wäre also sicherlich nicht blöd, mehr als zwei Schritte vorauszuschauen und nicht mit der sehr kurzsichtigen (und mehr als unschönen) Haltung die Problematik weiter in die Zukunft zu schieben. Wenn also nicht aus menschlichen, dann wenigstens aus rationalen Gründen sollte man daran interessiert sein, die Bedingungen für Menschen, die ihr Land (wegen was auch immer) verlassen, so human wie möglich zu gestalten.

 

Der Pakt möchte aber nicht nur die Bedingungen für Menschen auf der Flucht verbessern, sondern auch die Ursachen für die Migration in den Herkunftsländern bekämpfen. Dass sich weniger Menschen gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen, müsste doch besonders im Interesse der Migrationskritiker stehen. Auch die Förderung einer sicheren und würdevollen Rückkehr ins Herkunftsland, und die nachhaltige Reintegration steht im UNO-Migrationspapier. Meines Erachtens erhält der Pakt also durchaus auch sinnvolle Bestimmungen, die all jene ansprechen sollten, die eben nicht halb Afrika bei uns aufnehmen wollen. Doch das Stichwort Migration scheint häufig als eine Art Schlüsselreiz zu funktionieren, worauf alle Beteiligten in der folgenden Diskussion nach einem vorgelegten Schema agieren. So kann es denn auch schnell mal passieren, dass ein Argument zum Gegenargument wird und umgekehrt. FDP-Nationalrätin Doris Fiala nannte in der ‹Arena› etwa den sogenannten Brain-Drain, also das Abwandern von Fachkräften, als Argument gegen die Migration, denn das würde dazu führen, dass es den betroffenen Ländern noch schlechter geht. Obwohl gar nicht falsch, war ich verwirrt. So dachte ich immer, die gut ausgebildeten Fachkräfte nehme die Schweiz noch so gerne auf, sei sogar darauf angewiesen, und für Uneinigkeit würden vor allem die ‹anderen› Migranten sorgen. So hatte die Schweiz in den 60er Jahren etwa auch wenig Probleme mit der Aufnahme von medizinischem Personal aus Jugoslawien und auch in den letzten Jahren kamen vermehrt ÄrztInnen aus Süd- und Südosteuropa, weil wir im eigenen Land zu wenig Fachkräfte ausbildeten.

 

Migration ist eine komplexe Sache und zahlreiche Faktoren spielen dabei eine Rolle. Weniger komplex finde ich jedoch den Pakt, um welchen es jetzt geht. Von beiden Seiten wahrscheinlich etwas überschätzt, ist er wenn, dann nur eines: Ein Schritt in die richtige Richtung.

 

Zara Zatti

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