Peinlich, peinlich!

von Markus Ernst Müller

 

Langjährige Leser­Innen dieser Seite erinnern sich eventuell noch schwach an mich: In der Vergangenheit durfte ich gelegentlich an dieser Stelle für meine Frau Ina einspringen.
Heute ist es wieder soweit – allerdings habe ich dies erst sehr kurz vor dem allerletzten Abgabetermin erfahren. Einen Text heraufhusten, ohne dass es peinlich wird: keine einfache Aufgabe. Sehr peinlich ist es ja beispielsweise, in einer Kolumne das Schreiben der Kolumne selbst zu thematisieren, dies muss ich unbedingt vermeiden…

Glücklicherweise kommt mir ‹20 Minuten› zu Hilfe mit der grossen Schlagzeile: «Der Bund warnt: Wer zu viel trinkt, tut peinliche Dinge». Hier fehlt ein Ausrufezeichen! Es fällt mir wie Schuppen von den Augen! Nach über 30 Jahren des Alkoholkonsums wird mir endlich klar, wieso viele meiner Bekannten (ich selbstredend nie!) sich im Nachgang zu Saufgelagen oft so schämten! Sie haben zu viel getrunken, und deshalb peinliche Dinge getan!
Ich glaube nicht an Präventionskampagnen. In der Kanti hat uns ein übermotivierter Kandidat für die Stelle unseres alternden Biologielehrers bei seiner Probelektion eine Raucherlunge mitgebracht. Physisch, mit alles. Natürlich mussten wir in der Pause umso dringender eine rauchen, um unsere Schockresistenz zu beweisen. So glaube ich, dass die Kampagne des Bundesamts für Gesundheit (BAG) bei der jugendlichen Zielgruppe den Reflex auslösen wird, zu beweisen, dass gerade sie eben auch besoffen immer noch geile Siechen sind.
Mit dem Hinweis, dass Peinlichkeiten heute über die ‹Sozialen Medien› viel direkter und nachhaltiger an die Öffentlichkeit gelangen als früher, hat das BAG aber natürlich recht. Hier wäre meines Erachtens Steuergeld für eine Kampagne nicht verschwendet – die Medienkompetenz ist ja heute nicht nur bei Jugendlichen im Argen, wie Selfie-, Chat- und Mail-Skandälchen von PolitikerInnen im In- und Ausland gelegentlich belegen.

Die Klage über den Umgang mit Steuergeldern jedoch ist wiederum auch etwas peinlich, gehört sie doch in die Domäne der politischen Gegenseite. Diese hat nun aber selbst gar keine Scheu, ihre Peinlichkeiten laut und mit geschwellter Brust in die Öffentlichkeit hinauszurufen.

Dass es die gleichen Leute sind, die als Politiker Pensionsalter 70 predigen und als Manager niemand über 50 einstellen, wird dank der AHVplus-Kampagne gerade wieder etwas zum Thema.
Die gleichen Kreise, die jederzeit ‹Freiheit› propagieren und die Gesetzli-Flut anprangern, fordern nun Bekleidungsvorschriften für Frauen.
‹Liberale› Ökonomen predigen das Sparen und erwarten Wirtschaftswachstum. Das Denken in Zusammenhängen ist den Bürgerlichen anscheinend fern, und sie schämen sich nicht einmal dafür!

Ich frage mich oft, wie scheinbar vernünftige Leute derart peinliche Positionen vertreten können. Und die Antwort gibt mir jetzt das BAG: Die trinken doch einfach alle zu viel!

Dies fängt nämlich bereits in den Studentenschaften an, wo die angehende bürgerliche Elite sich im Saufen übt – gerade in Zofingen, wo ich aufgewachsen bin, wurden wir alljährlich von Horden verkleideter angehender Intellektueller heimgesucht, die unsere Frauen belästigten und am folgenden Morgen leichenblass in Haufen übereinander am Strassenrand lagen.
Und als Erwachsene machen die dann Politik und Wirtschaft, und die Peinlichkeit ist dann halt schon chronisch.

Ja, jetzt hab ichs denen aber gesagt! Prost!

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