Migration als körperliche Erfahrung

Migration wird in der Öffentlichkeit oftmals als abstraktes Phänomen diskutiert. Doch was sind die tatsächlichen Auswirkungen auf die betroffenen Individuen?

 

Milad Al-Rafu

 

Wie auf vielen Friedhöfen in der Stadt Zürich herrscht auch in Witikon eine Stimmung voller Ruhe und Gelassenheit – trotz oder vielleicht gerade wegen der allgegenwärtigen Erinnerung an die Endlichkeit des Lebens. Neben den Grabfeldern finden sich Parkbänke, die zum Verweilen einladen, während die Bäume auch im Sommer für ein bisschen Schatten sorgen. Die Grabsteine selbst sind in dezenten Farben gehalten – grau, braun, schwarz – wobei man immer wieder mal etwa grüne oder hellrote Ausreisser vorfindet. Ein Teil der Steine ist mit christlichen Symbolen verziert, während andere Gräber ganz schlicht daherkommen. Viele Jahreszahlen auf den Grabsteinen deuten auf ein langes, wenn nicht sogar erfülltes Leben, hin: 1901 – 1994, 1923 – 2015, 1944 – 2008.

 

Wendet man den Blick zum Rande des Friedhofes, sieht man auf einer kleinen Anhöhe einen durch eine Mauer abgegrenzten Bereich: Dort befindet sich seit 2004 ein Grabfeld für Personen muslimischen Glaubens. Gemäss Bevölkerungsamt der Stadt Zürich sind die Gräber nach islamischem Ritus gegen Mekka ausgerichtet, wobei auch ein modern ausgestatteter Waschraum für die rituelle Waschung vorhanden ist. Anders als auf dem restlichen Grabfeld, finden sich hier nur ganz wenige Grabsteine: Schlichte Holzkreuze mit Namen und Geburts- und Todesjahr weisen auf den Bestattungsort hin. Wenig überraschend ist der Grossteil der Namen auf den Kreuzen arabischer, bosnischer und albanischer Herkunft – nur einzelne Schweizer Namen lassen eine Konversion zum Islam vermuten. Was jedoch auffällt ist die relativ kurze Lebensdauer: Während auf dem nichtmuslimischen Grabfeld eine Grosszahl der bestatteten Personen ein hohes Alter von 80 Jahren und mehr erreichten, verstarb ein erheblicher Anteil der muslimischen Personen bereits vor ihrem sechzigsten Lebensjahr.

 

Unweigerlich kommen einem dabei die Worte des afroamerikanischen Autors Ta-Nehisi Coates in den Sinn, der in seinem Buch «Zwischen mir und der Welt» Rassismus zuerst einmal als körperliche Erfahrung beschreibt, der «das Hirn erschüttert, die Atemwege blockiert, Muskeln zerreisst…». Mit seinem Buch arbeitet Coates Themen wie Polizeigewalt und strukturellen Rassismus auf, die sehr spezifisch die USA betreffen und deshalb nicht direkt auf die Situation in der Schweiz Anwendung finden können. Dennoch stellt sich die Frage, wie sich hierzulande Mi­gration – inklusive Fluchterfahrungen, Kulturschock sowie die mit der Einwanderung einhergehende Diskriminierung – auf die Gesundheit und damit auf die Lebensdauer der betroffenen Personen auswirken.

 

Lügen Zahlen nicht?
Ein erster Anhaltspunkt, um diese Fragen zu beantworten, ist die durchschnittliche Lebenserwartung der ausländischen Bevölkerung: Das Amt für Statistik der Stadt Zürich hat letztes Jahr eine Statistik veröffentlicht, die für die letzten fünfzehn Jahre die Anzahl Todesfälle pro Jahr in der Stadt sowie das durchschnittliche Sterbealter dokumentierte. Hierbei wurde unter anderem zwischen SchweizerInnen und AusländerInnen unterschieden. Das Ergebnis: Das durchschnittliche Sterbealter der ausländischen Wohnbevölkerung – sowohl für Männer als auch für Frauen – lag konstant mindestens zehn Jahre tiefer. Nach den möglichen Gründen gefragt, verweist Statistik Zürich auf den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Faktoren und der Lebenserwartung: Studien würden belegen, dass mit höherem Einkommen tendenziell die Lebenserwartung steigt. AusländerInnen sind von diesem Phänomen aufgrund der durchschnittlich schlechteren sozialen Stellung stärker betroffen als SchweizerInnen.

 

Auf der nationalen Ebene zeigt sich ein anderes Bild: Erhebungen des Bundes zwischen 2008 – 2013 haben ergeben, dass die ausländische Wohnbevölkerung eine leicht höhere Lebenserwartung aufweist als SchweizerInnen. Als Grund gilt folgende Dynamik: «Personen, die in die Schweiz einwandern, unterliegen einer gewissen gesundheitlichen Selektion. Wer gesund ist und arbeiten kann, wandert eher in die Schweiz ein.» Ausserdem würden zahlreiche Eingewanderte in ihr Herkunftsland zurückkehren, sobald sie das Rentenalter erreicht haben. «Somit wandern sie aus, bevor eine chronische Krankheit über kurz oder lang zu ihrem Tod führen kann.»

 

Migration als Gesundheitsrisiko
Wie sich eine Migrationserfahrung auf die Lebenserwartung auswirkt, ist somit nicht ganz klar. Die Fragestellung nach den Auswirkungen auf die Gesundheit lässt sich klarer beantworten: So sind dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) die gesundheitlichen Risiken der Migration schon seit längerem bekannt. In einer Publikation von 2013 fasste das BAG die Gesundheitsrisiken von MigrantInnen wie folgt zusammen: MigrantInnen beurteilen ihren Gesundheitszustand tendenziell schlechter als die einheimische Bevölkerung. Insbesondere chronische Schmerzen, infektiöse Krankheiten, häufiger Medikamentengebrauch und Alterbeschwerden wie Rheuma treten bei der ausländischen Bevölkerung vermehrt auf. Auch leidet die Migrationsbevölkerung häufiger unter psychischen Beschwerden als SchweizerInnen.

 

Der Bericht des BAG hält jedoch fest, dass Migration nicht in jedem Fall krank macht, sondern nur unter gewissen Umstände: «Wandern Personen unfreiwillig aus, sind häufig Krieg, Gewalt, Folter und Verfolgung der Grund. Dies kann bei den Opfern Gefühle der Unsicherheit und Entwurzelung auslösen und quälende Erinnerungen hinterlassen, was zu körperlichen und psychischen Störungen führen kann.» Auch ein unsichererer Aufenthaltsstatus könne mit dem damit verbundenen Gefühl existenzieller Unsicherheit und einer mangelnden Zukunftsperspektive die Gesundheit nachteilig beeinflussen.

 

Zudem spielen auch die bereits erwähnten sozioökonomischen Umstände eine erhebliche Rolle: Schlecht bezahlte und körperlich starkbelastende Arbeiten, das erhöhte Arbeitslosenrisiko und unregelmässige Arbeitszeiten wirken einem gesunden Leben klar entgegen. Auch in der psychologischen Beratung ist man sich der Tragweite von Migrationserfahrungen bewusst: So bietet etwa die Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik des Universitätsspitals Zürich Sprechstunden an für Personen, «deren psychische Erkrankung durch eine Migration mitbedingt oder aufrechterhalten wird».
Bezogen auf das Zitat von Ta-Nehisi Coates liesse sich die Situation der hiesigen MigrantInnen wie folgt zusammenfassen: «Migration ist eine physische und psychische Erfahrung, die es vermag, den Körper zu schleifen, die Seele in Aufruhr zu versetzen und den Geist zu ermüden.»

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