«Man könnte auch sagen: Das, was wir jetzt leben, ist eine Dystopie»

1997 konnten die ZAF!-AktivistInnen die Zürcher StimmbürgerInnen fast davon überzeugen, das Auto von den Zürcher Strassen zu verbannen. 20 Jahre später mobilisieren die Juso ein zweites Mal für ein autofreies Züri. Mätti Wüthrich, der 1997 Aktionen plante und Stefan Bruderer, der sich heute mit der Juso für Züri autofrei engagiert, haben Manuela Zeller ein paar Fragen beantwortet.

 
 
Seit der Abstimmung über ZAF! sind 20 Jahre vergangen. War das Absicht, die neue Züri autofrei-Initiative quasi zum Jubiläum zu lancieren?
Stefan Bruderer: Nein, überhaupt nicht! Wir hatten ja online darüber abstimmen lassen, für welches Thema sich die Juso einsetzen sollen: Einkommensabhängige Miete, die Aufnahme von zusätzlichen 50 000 Flüchtlingen oder Züri autofrei. Züri autofrei hat gewonnen.

 
 
Wofür haben Sie abgestimmt?
SB: Züri autofrei! Damals wusste ich noch gar nicht, dass es vor zwanzig Jahren eine ähnliche Initiative gegeben hatte. Als über die Themen fürs E-Voting diskutiert wurde, standen klassisch sozialdemokratische Anliegen im Zentrum, schliesslich hat jemand Züri autofrei eingeworfen. Das Thema hatte dann im E-Voting gewonnen, es scheint die Menschen zu beschäftigen.

 
 
Mit dem Thema liessen sich auch schon vor 20 Jahren Menschen gut mobilisieren…
Mätti Wüthrich: Ja genau, ursprünglich war ZAF! ebenfalls ein Juso-Projekt. Und die Grünen machten auch mit. Es sind aber zahlreiche Leute, die noch nicht politisch waren, wegen dem Thema und wegen der Sinnhaftigkeit des Anliegens zu uns gestossen. Wir kamen immer mehr weg vom formal-politischen Weg, wurden zu einer Bewegung. Für unsere Aktionen konnten wir jeweils bis zu 300 Leute mobilisieren. Es war gleichzeitig ein politisches Projekt und ein Politisierungs-Projekt.

 
 
Wie sind Sie selber dazu gestossen?
MW: Ich war bei der Greenpeace Regionalgruppe, als ich von ZAF! hörte. Meinen Einstand hatte ich, als wir in Zürich mit etwa 250 Leuten gleichzeitig acht Plätze sperrten; ich war am Kreuzplatz. Wir versuchten es mit Nagelbrettern, also Dachlatten mit Nägeln drin. Wir gingen ziemlich dilettantisch vor, hatten den Hammer vergessen. Es funktionierte nicht, abgesehen von einem Velofahrer, der sich einen Platten holte. Das waren unsere ersten Erfahrungen. Naiv, unbeschwert. Zum Glück – aus medialer Sicht – hatte bei einer Sperrung am Limmatplatz ein betrunkener Passant mit einer Pistole herumgeschossen, so kam der Name ZAF! in die Medien. Wir haben unsere Strategie dann angepasst. Unsere Aktionen wurden origineller und medial wirksamer. Die Aktionen waren immer noch oft illegal, aber wir konnten besser verhandeln, bekamen viel Sympathie.

 
 
Was für Aktionen waren das?
MW: Eine unserer Hauptaktionen war «Flitzen statt Rasen», damit hatten wir den Abstimmungskampf eröffnet. Hordenweise rannten wir nackt durch die Strassen, mitten im Winter. Das zeigt den Geist der Bewegung: originell, mutig, viel Körpereinsatz und die Idee, Sichthilfe zu bieten für versteckte Tatsachen. Oder es gab das Cüpli-Häppli Streetwalking auf dem Zebrastreifen. Wir versuchten, als Gruppe den Zebrastreifen möglichst oft zu überqueren, auf der einen Seite gab es Cüpli, auf der anderen Häppli. Das war eine Art Strassensperre. Nicht ganz legal, aber keine Nötigung.

 
 
Gabs auch Leute, die das nicht so lustig fanden? Wie waren die Reaktionen der AutofahrerInnen?
MW: Die Reaktionen waren zum Teil sehr massiv, es gab Leute, die hätten uns am liebsten verprügelt, manche AutofahrerInnen sind ausgestiegen, andere haben gedroht, Gas zu geben. Wir lernten, uns zu schützen.

 
 
Und heute? Sind die AutofahrerInnen entspannter?
SB: Nein, überhaupt nicht, als wir vor einer Weile mit Stuhl und Tischchen eine Strasse besetzten, sind die AutofahrerInnen nach drei Minuten fast ausgerastet. In solchen Momenten wirkt das Auto wie eine Waffe. Selbst als ich mit ‹umverkehR› am jährlichen «Parking Day» zwei, drei Parkplätze umnutzte, sogar mit Bewilligung, gab es sehr heftige Reaktionen.
MW: Es gibt Techniken, um als Individuum Raum im Verkehr zurückzugewinnen. Michael Hartmann, der «Autogeher» aus München, hatte ein Seminar mit uns gemacht. Hartmann war bekannt dafür, dass er einfach über geparkte Autos drüber lief, wenn sie ihm als Fussgänger im Weg standen – ohne Sachbeschädigung. Er hatte uns auch gezeigt, wie man dichtbefahrene Strassen überquert. Wichtig ist dabei, aus einem Seitenblick dem Autofahrer oder der Autofahrerin in die Augen zu schauen und die Strasse mit grosser Entschlossenheit zu überqueren. Wir hatten das dann probiert, 200 Leute über die ganze Stadt verteilt, und gemerkt: Ich kann auch als Einzelperson meinen Lebensraum zurückerobern. Es war verblüffend, was passiert, wenn man die angelernte Selbsteinschränkung überwindet.

 
 
Werden die Juso Methoden von 1997 für den Abstimmungskampf 2017 übernehmen?
SB: Auf jeden Fall, Mätti war an einem Treffen von uns und hat Bilder von den Aktionen damals gezeigt und manche Methoden erläutert. Das kam bei unseren Leuten extrem gut an. Aber wir haben auch ganz andere Ideen. Ich glaube, es wird eine tolle Kampagne, die Spass macht.

 
 
Die Aktionen damals wie heute klingen tatsächlich nach viel Spass, aber wie ist die Gruppe damit umgegangen, wenn Mitglieder Strafen und Einträge ins Strafregister kassiert haben?
MW: Es gibt nicht so viele Berufe, bei denen man einen einwandfreien Leumund braucht. Für mich war das kein Problem, und später bei meiner Bewerbung als Campaigner in einer NGO sogar ein klarer Leistungsausweis (lacht). Ausserdem erwartet man immer gleich richtig schlimme Konsequenzen, dabei haben wir gemerkt, dass man ziemlich viel machen kann, ehe es tatsächlich rechtliche Probleme gibt. Wir wurden immer mehr zu RechtsexpertInnen. Die Strasse sperren, das war Nötigung, aber die Autos auf der einen Spur unter Transparenten durchfahren lassen, das war rechtlich ein ganz anderer Sachverhalt, den wir uns auch leisten konnten. Und wenn die Strafen zu teuer wurden, haben wir halt ein Soli-Fest veranstaltet, was der Bewegung auch wieder neuen Schwung gegeben hat. Aber klar, ewig kann man sich nicht exponieren, auch die 80er-Bewegung wurde juristisch aufgerieben.

 
 
Und heute, lassen sich die Juso durch rechtliche Konsequenzen abschrecken?
SB: Uns kann nichts abschrecken – wir gehen sowieso davon aus, im Recht zu sein. Unsere Aktionen sind konstruktiv, ebenso wie unser Anliegen für eine autofreie Stadt. Wir wollen aufzeigen, wie ein autofreies Zürich aussehen kann; unsere Aufgabe ist es, die angebliche Utopie zu veranschaulichen.

 
 
Bekommt Ihr denn auch spontan Unterstützung aus der Bevölkerung?
SB: Ja schon, bei der ersten Aktion zu dem Thema hatten wir beim Predigerplatz einen Parkplatz besetzt, wir hatten Rasenteppiche ausgerollt und wollten mit der Bevölkerung grillieren. Nach einer halben Stunde Vorbereitung hatte bereits ein Autofahrer die Polizei gerufen. QuartierbewohnerInnen kamen uns aber zu Hilfe und diskutierten mit der Polizei, beschwerten sich über die AutofahrerInnen und deren Parkplatzsucherei.
MW: Wir hatten damals eine Aktion an der Streetparade gemacht: Wir hatten einen Veloanhänger in einem Innenhof versteckt und uns damit in den Umzug integriert. Mit einem Transparent, das sogar vom Helikopter aus zu lesen war. Wir hatten auch Vogelgezwitscher-Techno auf unserem Wagen und ein goldenes Auto, auf das man im Takt eindreschen und darauf tanzen konnte. Aber zuerst mussten wir uns natürlich durchsetzen gegen die Gorillas der Security. Die Raver fanden die Aktion gut und halfen uns.

 
 
Hatte ZAF! eigentlich auch vorgehabt, die Abstimmung zu gewinnen, oder ging es eher um Provokation und Sensibilisierung?
MW: Wir hatten versucht, ein realpolitisches Anliegen so radikal wie möglich zu formulieren. Wir wollten eine Gesetzesänderung, aber wir wussten ja, dass die Möglichkeiten auf kommunaler Ebene beschränkt sind. Ein Drittel der Strassen sind kantonal oder sogar national. Gewerbeverkehr und die Grundversorgung mit dem Auto sind auch nicht antastbar. Ich würde sagen, es lief auf pragmatische Quartiersberuhigung heraus – einfach utopisch und radikal formuliert.

 
 
Und heute? Utopie oder Realpolitik?
SB: Das Auto gehört nicht in die Stadt. Vor hundert Jahren gab es keine Autos in der Stadt, es funktionierte trotzdem. Wir sind nicht gegen Fortschritt, wir wollen nicht verbieten, das Gewerbe mit Lastwagen zu beliefern. Es macht allerdings keinen Sinn, wenn jemand am Züriberg wohnt und das Kind mit dem SUV in die Enge ans Gymi fährt. Wir differenzieren zwischen nötigem und unnötigem Verkehr und entsprechenden Mobilitätssystemen.

 
 
Aber was nützen die Kantonsstrassen und Bundesstrassen den ZürcherInnen, wenn sie kommunale Strassen nicht mehr benutzen dürfen?
SB: Das werden wir oft gefragt, allerdings sind wir noch nicht in der Umsetzungsphase, im Moment geht es darum, die Vision einer autofreien Stadt aufzuzeigen, wie die Stadt aussähe, wieviel Platz es gäbe.
MW: Man könnte auch sagen: Das, was wir jetzt leben, ist eine Dystopie. Wenn man das Auto im Ballungsgebiet anschaut, kommt man zum Schluss: Es stinkt, es lärmt, es killt, es braucht viel zu viel Platz, es trägt seine Kosten nicht und es ist Nonsens, eine Maschine zu bauen, die drei Tonnen schwer ist, um 100 Kilo zu bewegen. Wir müssen diesen dystopischen Fehler beheben. Mit jenen Handlungsmöglichkeiten, die einem zur Verfügung stehen – zum Beispiel mit einer politischen Initiative auf kommunaler Ebene. Für Sachzwänge, eben zum Beispiel die Bundesstrassen, braucht es sowohl pragmatische Lösungen als auch visionäre Denkanstösse.

 
 
Die erste ZAF!-Initiative wurde noch in einem autofreundlichen Umfeld lanciert, heute gibt es aber immer wieder Vorstösse, etwa die Städteinitiative, um den nachhaltigen Verkehr zu fördern. Wieso braucht es trotzdem noch einen so radikalen Vorstoss?
SB: Die Städteinitiative war ein sehr kleiner Schritt zur Förderung des Langsamverkehrs, Züri autofrei hat einen ganz anderen Ansatz. Es braucht eine Gesamtlösung. Wenn man merkt, dass die Leute velofahren wollen, reicht es nicht, sie aufs Trottoir zu verbannen. Es braucht ein Gesamtkonzept. Man müsste doch grundsätzlich überlegen: Wer wohnt hier, wer arbeitet hier, was sind die Bedürfnisse? Wenn man die Situation mit mehr Distanz betrachtet, sieht man, dass es eine andere Lösung braucht. Das Auto ist eine schlaue Erfindung, aber nicht für die Stadt.
SB: Man betreibt Kosmetik an einem schlechten System. Wir leben in der Schweiz und in Zürich nicht nachhaltig und wir brauchen eine Lösung. Es braucht fundamentale Veränderungen.

 
 
Freut das eigentlich die AktivistInnen von 1997, dass ZAF! in die zweite Runde geht?
MW: Also ich finds super. Es zeigt, dass das Bedürfnis immer noch da ist – aber auch, dass die Probleme nachwievor ungelöst sind. Und die Debatte ist inzwischen weiter, wir wissen mehr über den Klimawandel und Globalisierungsfallen.

 
 
Heute machen Sie ja im Prinzip immer noch das gleiche wie damals, einfach professioneller?
MW: Ich bin bei einer internationalen Umweltorganisation Projektleiter und Campaigner. Das Zusammenspiel von Aktion, Medien und wissenschaftlicher Information ist immer noch ein Thema, ja. Die Inhalte sind inzwischen andere geworden, ich habe an Kampagnen zu Chemie und Landwirtschaft gearbeitet, heute zu Freihandel und Unternehmensverantwortung. Im Prinzip ging es aber immer um Symptome des gleichen, schlecht designten Systems.

 
 
Und was ist Ihr Beruf, Herr Bruderer?
SB: Ich bin Lokführer, vielleicht liegen mir deshalb Themen wie Verkehr und Stadtentwicklung sehr am Herzen.

 
 
Wirds eine Kooperation geben von ZAF!-AktivistInnen beider Generationen?
MW: Kommt darauf an, plant ihr ein «Flitzen statt Rasen?»
SB: Ich kanns mir gut vorstellen, wir sind alle sehr angetan von der Idee, vielleicht aber lieber im Sommer (lacht).
MW: Wir waren damals 50 Leute, wenn ihr das auch schafft, kann ich vielleicht noch ein paar von uns alten Knackern aufbieten (lacht). 50 von euch und 50 von uns!

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