Kleinkariertes Bahn-Bashing

Hanspeter Guggenbühl

 

Ein tragischer Unfall öffnete die Schleusen, um die SBB mit Kritik zu überfluten. Dabei verlieren die Motzer alle Relationen.

 

Um nicht missverstanden zu werden: Dass ein SBB-Zugbegleiter am 4. August getötet wurde, weil der Einklemmschutz der Wagentüre versagte, ist tragisch. Und das Resultat der Untersuchung, wonach es viele Türen mit ähnlichen Defekten gibt, ist bedenklich. Ebenso bedenklich ist aber die Hektik, die dieser eine Todesfall  auslöste: Die SBB-Leitung traf sich zur «Krisensitzung». Das Bundesamt für Verkehr rügte. Die Verkehrskommission des Ständerates liess SBB-Chef Andreas Meyer vortraben, als ob der Einklemmschutz in den Kompetenzbereich einer parlamentarischen Kommission fallen würde. Und die Medien nutzen die Gunst des tragischen Ereignisses, um den Bahnen ihr Sündenregister vorzulegen. Das Wortpaar «SBB und Krise» tauchte in den letzten drei Wochen in den Medien über hundert Mal auf.

 

Sicherheit – einst und jetzt

Dazu nur zwei Beispiele: «Verspätungen, Zugsausfälle, Fahrwerkstörungen, Kommunikationspannen, Auslieferungsprobleme … Die Schlagzeilen zu den SBB könnten schlechter nicht sein. Nach dem tödlichen Unfall eines Kondukteurs haben sie sich gar zur Krise verdichtet», schrieb eine Journalistin in den AZ-Medien vom 24. August und blickte zurück auf eine Ausstellung über die gute alte Zeit, «als die SBB der Stolz der Nation waren».

Ich blicke ebenfalls zurück, nämlich auf die Unfallstatistik, was im aktuellen Kontext eigentlich am nächsten liegt. Resultat: Die Zahl der Zugunglücke in der Schweiz nimmt seit Jahrzehnten stetig ab, im Jahr 2018 auf weniger als einen Achtel gegenüber dem Stand von 1970. Die Zahl der Bahntoten sank im gleichen Zeitraum auf einen Siebtel, während der Schweizer Bahnverkehr seine Verkehrsleistung seit 1970 mehr als verdoppelt hat. Im Jahr 2018 starben in der Schweiz noch 14 Menschen bei Bahnunfällen, 233 (oder siebzehn Mal mehr) bei Strassenverkehrsunfällen.

 

Pünktlichkeit – im Vergleich 

«SBB in der Krise», titelte auch die ‹Weltwoche› vom 22. August und lud den pensionierten NZZ-Journalisten Hans Bosshard  ein, den SBB die Leviten zu lesen. Was dieser gerne tat. Dabei trauerte er ebenfalls den alten Bahnzeiten nach, als der Rote Pfeil durch die Schweiz flitzte. Heute aber hätten ausländische Bahnen mit höheren Spitzentempi die SBB überholt (was stimmt, doch ein Fahrtempo von mehr als 160 km/h ist in der kleinräumigen Schweiz wenig relevant).

 

An den heutigen Bundesbahnen beanstandet Bosshard einiges zu Recht, etwa Mängel bei Beschaffung und beim Unterhalt von Rollmaterial oder Informationspannen. Gleichzeitig  kritisiert er kleinkariert die ungenügende Pünktlichkeit sowie den «Trick», Züge erst ab drei Minuten Verspätung als unpünktlich zu taxieren. Und zum Abschluss klagt «Bähnli-Bosshard» (sein Spitzname bei der NZZ) einmal mehr darüber, dass die SBB-Leitung seinen unsinnigen Vorschlag, eine neue Bahnschneise durchs Mittelland zu bohren, um die Züge zusätzlich zu beschleunigen (was eine Verlängerung der Pendeldistanzen bewirken würde), nicht respektvoll gewürdigt hat. Verletzte Eitelkeit ist keine gute Voraussetzung für faire Kritik. Es stimmt zwar, dass sich die Pünktlichkeit der Bundesbahnen in den letzten Jahren kaum verbessert hat. Doch immerhin 90 Prozent aller Fahrgäste (Stand 2018) kommen innerhalb der Toleranzgrenze von drei Minuten rechtzeitig an und erreichen meist die nächsten Anschlüsse. Im Vergleich mit den Bahnen im Ausland, die Unpünktlichkeit erst ab fünf oder sechs Minuten Verspätung registrieren, sind die SBB trotz strengerem Massstab immer noch pünktlicher. Zudem haben die Schweizer Bahnen ihren Fahrplan stetig verbessert und verdichtet. Darum ist es eher ein Wunder als eine Selbstverständlichkeit, dass die Züge in der Schweiz nicht öfter verspätet ankommen.

 

Vergleicht man die Zuverlässigkeit auf dem Bahn- mit jener auf dem Strassennetz, so schwingen die SBB noch deutlicher obenaus. Allein auf dem Nationalstrassennetz gab es 2018 in der Schweiz 25 000 Staustunden – oder 68 an einem Durchschnittstag. 2018 steckten die Autofahrenden bereits doppelt so lang im Stau wie 2009. Da kann man sich schon fragen, warum die Medienleute primär die Verspätungen der Bahnen thematisieren. Eine Erklärung liegt nahe: Wenn der Zug zu spät ankommt, sind die Bahnbetreiber schuld. Wenn man aber 30 Minuten bis fünf Stunden im Autobahnstau steckt, ist man selber der Trottel.

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.