Glückswünsche für ein spezielles Geburtstagskind

Ein Rückblick auf das Leben einer Genossin der alten Schule. Mit Charlotte Frey feierte das älteste SP-Mitglied der Stadt Zürich seinen 100. Geburtstag.

 

Julian Büchler

 

Eine Anekdote, die Charlotte Frey besonders gerne erzählt, ist jene von ihrem Volvo. In manchen Situationen, in denen sie mit ihrem Leben haderte, habe sie sich in ihren Volvo gesetzt, ihn gestreichelt und ihm ihre Sorgen erzählt – und zum Abschluss «es Usfährtli» gemacht. Als sie neu ins Alterszentrum kam, entdeckte sie beim Spaziergang im Quartier das gleiche Modell wieder – inklusive dessen Besitzer. Schnell seien sie ins Gespräch gekommen, und Augenblicke später, als sie auf dem Beifahrersitz platzgenommen habe, da wusste sie, dass sie am richtigen Ort angekommen sei. Diese Geschichte ist bereits einige Jahre her, Charlotte Frey wohnt jedoch auch im hohen Alter von 100 Jahren noch immer gerne im Alterszentrum Stampfenbach.

 

Es sei alles andere als gewöhnlich, jemandem zum 100. Geburtstag zu gratulieren, wendet sich SP-Stadträtin Claudia Nielsen an der Geburtstagsfeier an das spezielle Geburtstagskind. 100 Jahre bedeuten viele Begegnungen, aber auch einige Abschiede. Charlotte Frey, die am 8. Dezember 1917 im Kanton Bern zur Welt kam und mehr als die Hälfte ihres Lebens in der Stadt Zürich verbrachte, sitzt in der vordersten Reihe – bequemen im gepolsterten Sessel, fein angezogen, perfekt sitzende Frisur. Im Namen des gesamten Stadtrates überbringe sie die Glückwünsche, garniert von einem Blumenstrauss so gross wie das Geburtstagskind selbst, beginnt Claudia Nielsen zu erzählen.

 

Doch sie sei bei weitem nicht nur als Stadträtin hier. Sie und Lotti verbinde, dass sie in derselben Stadt wohnen – aber auch, dass sie beide in derselben Partei sind. Deshalb wolle sie nicht weiter von Frau Frey, sondern von «Genossin Lotti» erzählen. Charlotte, genannt Lotti, ist nicht irgendeine ältere Dame, welcher Claudia Nielsen als Umwelt- und Sozialvorsteherin Blumen überbringen darf. Sie ist das offiziell älteste SP-Mitglied der Stadt Zürich. Und mit über 60 Jahren Mitgliedschaft auch darin eine der Spitzenreiterinnen. Dies habe sie und die gesamte Partei dazu bewogen, ihr eine Urkunde zu überreichen, die dieses langjährige Engagement für die Partei würdige. Genossin Lotti habe sich in ihrem langen Leben stets für die Schwächsten eingesetzt, mit viel Liebe und Geduld ihren kranken Mann gepflegt und selbst im hohen Alter nicht daran gedacht, sich zurückzulehnen. So hat sie sich beispielsweise im Heimrat des Alterszentrums Stampfenbach bis ins hohe Alter vehement dafür eingesetzt, dass die Anliegen und Interessen der BewohnerInnen Gehör finden – und postwendend und lautstark beim Sozialdepartement an die Tür geklopft, wenn mal was nicht in ihrem Sinne verlief.

 

Es sind die kleinen Dinge…

Für sie sei das Streben nach Gerechtigkeit ein nie abzuschliessender Prozess, erzählt Lotti einige Tage nach ihrem 100. Geburtstag. Der Tag werde ihr immer in Erinnerung bleiben, sie habe von vielen lieben Menschen Grüsse und Geschenke erhalten. Neben den Blumen der Stadträtin und vieler weiterer Personen hat sie sich über ein Geschenk besonders gefreut: eine gebürstete Aluminiumschachtel, etwas kleiner als die Zeitschriften auf ihrem Salontisch, verziert und bemalt mit einem blauen Muster. Stolz erzählt sie, diese von einem befreundeten Grafiker bekommen zu haben. Neben den vielen Geschenken und dem Besuch von Claudia Nielsen begrüsste ein ganz spezieller Gast die Jubilarin. Ein alter Freud von Lotti, der sein Leben als Tenor bestreitet, überraschte sie mit einem Konzert. Sie habe sich aber mehr über die Begegnung denn über das Konzert selbst gefreut, verrät Lotti schmunzelnd.

 

Etwas, das Lotti gerne nochmals erleben würde, ist das Fallschirmspringen. Dies habe sie rückblickend erst viel zu spät zum ersten Mal gewagt, erklärt sie. Vor einigen Jahren sei es das letzte Mal gewesen, mit damals über 95 Jahren. Das Gefühl der Luft und die atemberaubende Aussicht lassen in ihr Freiheitsgefühle aufkommen. Momentan sei sie gesundheitlich zu angeschlagen, um es erneut zu wagen, aber wer weiss, vielleicht klappe es ja noch. Bis dann schaue sie von ihrem Fenster aus den vielen Vögeln zu, die sich vom Wind über der Stadt treiben lassen.

 

Es sind die kleinen Dinge, über die sich Lotti zu freuen weiss. Dies sei auch ihr Geheimrezept fürs Leben, verrät sie. Man müsse nicht glauben, dass man mit viel Geld glücklich werde. Wer lerne, sich an den kleinen Geschichten, die das Leben schreibt, zu erfreuen, der werde auch in düsteren Zeiten keinen Anlass finden, um unglücklich zu werden.

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