«Furchtbarheimelig»

Können Inseln kippen und sind darum Schiffe der sicherere Hafen? Nicole Knuth und Olga Tucek durchleuchten in ihrer neusten Produktion den Komplex der Heimat mit ihrer pointierten Hinterfragerei.

 

Als König und Königin – Der Bühne? Des Landes? Der Märchenentsprechung des Titels? – sind Nicole Knuth und Olga Tucek sichtlich genervt über dieses «moderne Theater», das sie aus Verdienstgründen genötigt sind aufzuführen, denn die Dramaturgie hinkt nicht, sie humpelt. Das Ego ihrer gekrönten Figuren wird zusehends noch beleidigter, weil ihre Auftritte immer so abrupt enden und sie noch nicht mal bis zum höfischen Winken kommen. Sie beginnen stilecht mit «es war einmal…» und finden unter dem Deckmäntelchen des Märchens eine Vielzahl von Zugängen, um den Begriff, das Verständnis und die Projektionsfläche Heimat durch eine Gegenüberstellung von Kaumvergleichbarem als Manövriermasse einer individualisierbaren Definition zu entblössen. Zuerst kehren sie vor der eigenen Tür und Bohemia und Austria schalten sich beschwerend ein, ihre Kinder Olga Tucek und Nicole Knuth wären durch ihre mittlerweile langen Lebensjahre in Helvetia viel zu assimiliert, um sie noch als Heimaten benennen zu können. Da sie aber korrektes Hochdeutsch sprechen, sind sie per definitionem keine Schweizerinnen. Diese Ohnmacht findet ihren Niederschlag in der Liedzeile «sollen wir weinen, lachen oder töten?» Neuer Anlauf: Nicole Knuth ist bereit, all ihr Erspartes für den Kauf einer Heimat auszugeben und erkundigt sich über die Möglichkeiten. Olga Tucek weiss Rat: Es gibt schönere und hässlichere, wie alles eine Frage des Preises. Die billigeren sind abenteuerlicher, die teureren langweiliger. Die Ratsuchende stellt sich unwissend und bohrt also weiter, bis zum ultimativen Geheimtipp: Wenn sie die billigere nehmen, legen sie das gesparte Geld unbedingt auf die Seite. Falls sie die hässlichere Heimat einmal überstürzt in Richtung einer schöneren verlassen müssen, sind sie froh drum. Touché! Also alles mal eine Stufe weiter runter: Die Identität muss identifizierbar sein. Was aber, wenn diese das Schicksal mit einer Vielzahl von Paninibildchen teilt: «Weder wertvoll noch besonders hell»? Wenn unter Helvetias Rock endlich Unterschlupf gefunden, geht die Entscheidungsfindung wieder weiter: Urban oder rural? Uniform-individuell oder furchtbarheimelig? Es hilft nur noch das Stossgebet und glücklicherweise sind sieben Engelchen bereit, ihre Allerweltsweisheiten mit den Anwärterinnen zu teilen. Auf ihrem Weg zurück zum Ursprung ihrer Endlosfragerei landen sie wohl oder übel in Paradiesien, wo Herr Müller und Frau Meier alias Ken und Barbie die fast perfektionierte Balance zwischen Zerstörung und Bewahrung gefunden haben. Auf dem Weg dahin mussten sie jedoch Verluste hinnehmen. Hat also doch die Kunst allein die Antworten. Bei Virginia Woolf – «as a woman, my country is the whole world» – scheinen sie fündig geworden, fragen aber natürlich weiter und findet mit Unterstützung von Nelly Sachs, Erika Mann und Emilie Brontë eine leidlich belastbare, dafür ausreichend beruhigende Antwort und beschliessen, den Spiess umzukehren. Entschlossen und vorwärtsdrängend. Auf dem Weg zu «sich zuerst selber ein zuhause zu sein» vollbringen sie die artistisch wagemutigste Aktion in ihrer gesamten bisherigen Bühnenkarriere. Nach geglücktem Hochseilakt gehen sie erleichtert in die Vollen und singen: «Es ist wieder Zeit, sich zu verschenken und zu tanzen, zu behaupten und zu protestieren, abzustürzen und zu brillieren, (…) sich vor dem Leben zu verneigen, zu lachen und zu schweigen.» Ein Rundumschlag der klug und böse, kritisch und optimistisch, musikalisch und selbstironisch ist, wie das vom personifizierten Mutterland, einer Amme – im 21. Jahrhundert also einer polnischen Nanny – in aller Güte und Strenge nicht herzerwärmender zu erwarten wäre.

 

«Heimat – Ein Ammenmärchen», 17.6., sogar, Zürich.

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