Filz für Fortgeschrittene

Das Koch-Areal, genauer die Lautstärke der dort gespielten Musik, war vor nicht allzu langer Zeit in aller Munde. Das heisst, vor allem im Munde der FDP, die im Gemeinderat fleissig Vorstösse einreichte. Dann sank der Lärmpegel – und parallel dazu das Geschrei in den Medien.

 

Letzte Woche jedoch widmete die NZZ dem Koch-Areal erneut eine ganze Seite. Um die Aktualität – der Stadtrat hat entschieden, dass die Genossenschaften ABZ und Kraftwerk 1 sowie die Senn AG gemeinsam das Koch-Areal überbauen sollen – ging es dabei zwar auch. Im Mittelpunkt stand aber der Filz: Wie seinerzeit beim Lärm, der laut NZZ und FDP offenbar nur deshalb herrschte, weil der Stadtrat der Alternativen Liste für die Polizei zuständig ist, gilt beim Wohnen anscheinend die Formel, dass sich Rot-Grün nur deshalb für zahlbaren Wohnraum einsetzt, weil die eigene Klientel in die mit Steuergeldern finanzierten Wohnsiedlungen einziehen soll.

Dass beides Mumpitz ist, versteht sich von selbst. Doch es ist Wahlkampf, und da kann es sich rächen, den Mumpitz der andern zu ignorieren. Wir erinnern uns: Vor nicht allzu langer Zeit erklärte die SVP der Schweiz, alle Parteien, ausser die mit dem Sünneli, würden «die Ängste der Bevölkerung nicht ernst nehmen», vor allem natürlich die Ängste auf dem Hauptgebiet der Sünneli-Partei, der Asylpolitik. Die Wirkung war verheerend: Auf einige Linke, die sich seit eh und je für Flüchtlinge ebenso wie für einheimische ‹kleine Leute› eingesetzt hatten, wirkte diese Anschuldigung wie ein Schlag auf den Kopf, der sie für die nächsten paar Jahre ausser Gefecht setzte. Andere sahen sich darin bestärkt, dass die Linke «endlich mehr machen» müsse, und begannen von Massnahmen zu träumen, die nicht mal im rot-grünen Lager mehrheitsfähig wären. Und schon hackten die einen Linken auf den andern Linken herum, derweil die Bürgerlichen alles versuchten, um die Sünnelis rechts zu überholen. Die wiederum schauten dem Treiben genüsslich zu – und lachten sich ins Fäustchen. Es dauerte Jahre, bis die Erkenntnis wieder salonfähig wurde, dass Leuten, die Probleme haben, noch lange nicht geholfen ist, wenn man ihnen versichert, man nehme «ihre Ängste ernst».

Und was hat das mit den Stadt- und Gemeinde­ratswahlen vom März 2018 in Zürich zu tun? Die SVP hat seinerzeit mit den «Ängsten» nicht nur einen schwammigen Begriff gebraucht, sondern sich auch sonst sehr bemüht, so unkonkret zu bleiben wie möglich. Entsprechend schwer hatten es jene, die versuchten, mit Argumenten zu reagieren, die auf Fakten und seriöser Recherche beruhten: Sie konnten bringen, was sie wollten, es interessierte kein Schwein.
Der Grund ist einfach: Die Geschichte

von den «Ängsten» diente weder der Klärung von Fakten, noch ging es darum, mögliche Lösungen für tatsächlich existierende Probleme zu diskutieren. Es ging bloss um Werbung für die eigene Politik und darum, die Politik aller andern zu diskreditieren. Die schlechtestmögliche Reaktion in einem solchen Fall ist es denn auch, diese Werbesendungen mit ernst gemeinten Diskussionsbeiträgen zu verwechseln. Die Geschichten zu ignorieren, geht aber leider auch nicht, siehe Sünneli-Beispiel: Das wird einem von den Absendern der frohen Werbebotschaft umgehend als vermeintliches Schuldeingeständnis um die Ohren gehauen.

Fassen wir zusammen: Die FDP will offensichtlich mit der Geschichte vom angeblichen rot-grün-alternativen Filz auf Werbetour gehen. Wenn man darauf reagiert, sollte man nicht vergessen, dass natürlich auch der FDP und der NZZ klar ist, dass eine Wohnung mit Kostenmiete nicht dasselbe ist wie eine Wohnung, die gemäss kantonalen Richtlinien subventioniert ist. Selbstverständlich wissen sie, dass weder SP noch Grüne noch AL bestimmen, wer welche Wohnung erhält – und dass es nur noch peinlich ist, von «Filz» zu reden, wenn einer, der vor vierzehn Jahren bei der ABZ war, heute ohne Stimmrecht in einer Jury sitzt, die sich für ABZ, Kraftwerk 1 und Senn AG als Baurechtsnehmer entscheidet. Diese ‹Fakten› anzusprechen, ist also vergebliche Liebesmüh.

Andererseits hat die SP bereits die Parole herausgegeben, «die erkämpften Errungenschaften mit aller Kraft verteidigen» zu wollen (P.S. vom 15. September). Ich will beileibe nichts verschreien. Aber in meinen Ohren tönt das so, als fühle sich die Partei heute schon in ihre Trutzburg zurückgedrängt – und hoffe bloss noch, dass die Mauern halten. Der Wahlkampf hat noch nicht mal richtig begonnen, und schon scheint man bei der SP davon auszugehen, dass die FDP sowieso gewinnt? Kann das sein? Okay, wenn man die Freisinnigen tatsächlich bis zu den Wahlen die Geschichte von den Linken erzählen lässt, die nur Wohnungen für die eigene Klientel bauen wollen und sowieso «für wenige statt für alle» politisieren, dann ist zu befürchten, dass die FDP bei den Wahlen punktet. Denn Geschichten bleiben nun mal umso besser im Gedächtnis haften und wirken umso glaubwürdiger, je öfter sie wiederholt werden – unabhängig vom effektiven Wahrheitsgehalt.

Da hilft nur eins: Eigene Geschichten müssen her. Allerdings ist Vorsicht geboten; allzu gemein dürfen sie nicht sein. Denn der Zustand der FDP ist noch viel schlechter, als es die bereits genannten Beispiele vermuten lassen: Nicht einmal die Freiheit liegt ihr mehr am Herzen. Oder wie sonst ist es zu erklären, dass sie bestimmen will, mit welcher Geldbeutel-Grösse man sich in welchem Mietzinssegment eine Wohnung suchen darf? Doch genau das hat sie vor, wenn sie sich vordergründig Sorgen darüber macht, dass ‹die Falschen› in den gemeinnützigen Wohnungen leben. Wer lieber nicht zu viel fürs Wohnen ausgeben möchte, weil ihm Komfort nicht so wichtig ist, weil er gern auf Reisen geht oder ein teures Hobby hat, muss sich umgewöhnen. Diese Freiheit hat er künftig nicht mehr, denn er muss mieten, was er sich gemäss FDP-Planwirtschaft leisten kann. Ja, da lacht das Herz der «Freunde Der Pürokratie»! Und wetten, dass auch Wohnungen mit Kostenmiete künftig teurer werden? Denn wenn die FDP-nahe Baugenossenschaft Zurlinden eine NZZ-Seite lang klagen kann, dass sie bei der Vergabe des Koch-Areals nicht zum Zug gekommen ist, dann ändert sich das möglicherweise, falls die FDP an die Macht kommt.

Deshalb, liebe Linke, seid auf der Hut – und bringt rasch ein paar gute Geschichten. Sonst klaut euch die FDP im März nicht nur WählerInnen, sondern auch noch den Filz!

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