Europa? Europa!

Braucht die Schweiz ein Rahmenabkommen? Ist der vorliegende Vertrag ein guter Deal für die Schweiz? Und wie soll sich Europa noch weiterentwickeln? Diese und weitere Fragen erläutern die beiden überzeugten Europäer Nicola Forster, Präsident des Think Tanks foraus (Forum Aussenpolitik) und Co-Präsident der GLP, und Martin Naef, SP-Nationalrat und Co-Präsident der neuen europäischen Bewerbung NEBS im P.S.-Gespräch mit Min Li Marti.

 

In einem Rundschau-Beitrag wird Nicola Forster gezeigt, wie er versucht, Sozialdemokrat­Innen vom Rahmenabkommen zu überzeugen. Wie überzeugst du uns jetzt hier?
Nicola Forster: Ich hatte die Gelegenheit, mit einzelnen VertreterInnen von SP und Gewerkschaften zu diskutieren, und mein Argument war immer, dass man den bilateralen Weg stabilisieren muss. Er ist in unser aller Interesse. Das Rahmenabkommen gibt uns Rechtssicherheit. Zum ersten Mal ist zudem der Lohnschutz festgeschrieben, das ist im Sinne von SP und Gewerkschaften.

 

Was sagst du da dazu, Martin?
Martin Naef: Die NEBS und ich wollen eigentlich mehr als ein Rahmenabkommen: Nämlich mitbestimmen. Wir streben den Beitritt an, mindestens als Fernziel. Ein Rahmenabkommen ist als Integrationsschritt wünschenswert, denn es trägt dazu bei, Differenzen zu verrechtlichen. Das ist immer im Interesse des kleineren Partners. Darum sind wir und im Übrigen auch die SP ganz klar für ein Rahmenabkommen. Die Frage ist jetzt, was in diesem Rahmenabkommen steht – und was nicht.
NF: Wenn man sieht, welche Möglichkeiten die EU heute hat, um der Schweiz gewisse Nadelstiche zu versetzen, dann wären wir besser geschützt, wenn unsere Beziehung durch ein Rahmenabkommen verrechtlicht wäre.

 

Retorsionsmassnahmen bei einem Vertragsbruch sollen, so heisst es im Abkommen, «verhältnismässig» sein. Was bedeutet das genau?
MN: Nicola hat diese Nadelstiche angesprochen, aktuelles Beispiel ist die Börsenäquivalenz. Wenn es heute einen Streit gibt, wird dieser im sogenannten gemischten Ausschuss verhandelt. Wenn dieser sich nicht einigen kann, gibt es allenfalls politisch geprägte Gegenmassnahmen. So geschehen bei Annahme der Masseneinwanderungsinitiative, als die EU uns die weitere Teilnahme am Forschungsprogramm Horizon 2020 verwehrte. Bei einem Rahmenvertrag müssten die Sanktionen verhältnismässig sein. Wenn einer der Partner sich nicht an den Vertrag hält, kann nicht einfach eine übertriebene Massnahme verhängt werden. Wir könnten also nicht einfach den Gotthard schliessen, wenn ein Schweizer Student nicht an einer Universität in Berlin aufgenommen wurde, die Retorsion müsste im gleichen Bereich stattfinden.

 

Die Gewerkschaften sind wegen der flankierenden Massnahmen FlaM kritisch. Sie sagen, dass wir diese autonom bestimmen können und sie darum gar nicht Bestandteil des Abkommens sein sollen. Ausserdem werde der Lohnschutz durch das Rahmenabkommen geschwächt.
NF: Die flankierenden Massnahmen sind essenziell für die Schweiz. Die Bedeutung des Lohnschutzes ist uns allen klar. Die EU sagt aber seit vielen Jahren, dass Firmen aus der EU, die grenzüberschreitend ihre Dienstleistungen anbieten, diskriminiert werden. Im aktuellen System hat der gemischte Ausschuss nie eine Lösung gefunden, die EU hatte nie eine Handhabe, um dies vor Gericht zu bringen. Meiner Meinung nach braucht es, wenn man einen gemeinsamen Vertrag abschliesst, auch einen Mechanismus, um überprüfen zu können, ob der Vertrag eingehalten wird.

 

Aber wenn doch der Lohnschutz wichtig ist, warum sollten wir der EU eine Handhabe geben, um gegen Lohnschutzmassnahmen vorzugehen?
NF: Der Lohnschutz ist ja zum ersten Mal überhaupt festgeschrieben in diesem Rahmenabkommen. Bis jetzt war es einfach Machtpolitik. Wenn im gemischten Ausschuss nichts entschieden wurde, dann konnte die EU uns einfach bestrafen. Das kann nicht im Sinne der Schweiz sein. Zur Ausgestaltung der einzelnen Lohnschutzmassnahmen: Die Vorschläge der EU sind erstens nicht so schlecht und zweitens geht es am Ende auch um die innenpolitische Umsetzung. Hier könnte man sich zwischen den Sozialpartnern entgegenkommen.
MN: Ohne Lohnschutz im bisherigen Umfang und ohne Gewerkschaften, ohne Sozialpartner gibt es schlicht und ergreifend kein Rahmenabkommen in der Schweiz. Ich verstehe die Sorgen der Gewerkschaften. Es droht die Gefahr, dass der Europäische Gerichtshof EuGH, aber auch ein Schweizer Gericht zum Schluss kommen könnten, dass die heutige Ausgestaltung des Lohnschutzes gegen die Dienstleistungsfreiheit verstösst. Es geht zudem nicht nur um die berühmte Acht-Tage-Regelung, sondern vor allem um die Lohnkontrollen. Im Vorschlag soll neu nur noch kon­trolliert werden, wenn eine Firma schon mal gegen die Regeln verstossen hat. Das wäre eine klare Schwächung der Kontrollen.

 

Wenn man eine Mehrheit haben will, muss man am Schluss auch noch das Volk überzeugen. Wie verkauft man dem Gewerbler oder der Bauarbeiterin das Rahmenabkommen, wenn damit die FlaM geschwächt werden?
NF: In den neuen Entsenderichtlinien der EU ist das Prinzip von gleichem Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort neu auch verankert. Das stimmt mich zuversichtlich, dass sich die EU in diese Richtung bewegt.

 

Aber wenn man weniger kontrolliert, nützt es ja nichts?
NF: Wir können doch nicht einfach dem Rahmenabkommen nicht zustimmen, weil wir nicht wissen, wie sich das Recht in Zukunft entwickelt. Dann könnten wir ganz aufhören mit Politik.

 

Du sagst also dem Gewerbler, das Rahmenabkommen bringt zwar eine Verschlechterung, aber die Situation wird einmal besser?
NF: Dem Gewerbler würde ich sagen, dass nur wenige Branchen betroffen sind: Das Baugewerbe, der Gartenbau, im geringen Mass die Gastronomie. Die Gewerkschaften sagen immer, es geht um die Löhne in der Schweiz, aber es geht nur um die Löhne von ungefähr 0,5 Prozent der Arbeitnehmenden. Man sollte dies auch in Relation setzen zu der Wichtigkeit der bilateralen Verträge für die Kultur, die Wirtschaft oder die Bildung.
MN: Wenn man anfängt, in einzelnen Sektoren das Lohngefüge durcheinander zu bringen, dann bringt man das gesamte wirtschaftliche Lohngefüge durcheinander. Wenn wir plötzlich in gewissen Branchen einen Niedriglohnsektor installieren, dann hat das eine Auswirkung auf alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Auf der anderen Seite ist es für die Wirtschaft wichtig, dass wir ein verlässliches Verhältnis mit Europa haben. Darum braucht es ein Rahmenabkommen, aber nur mit einem funktionierenden Lohnschutz. Hier braucht es eine Lösung, sei es durch eine Einigung der Sozialpartner, innenpolitische Kompensationen, oder dass man diesen Bereich aus dem Vertrag ausklammert.

 

Was wären mögliche innenpolitische Massnahmen?
MN: «Pièce de Résistance» ist die Frage der flächendeckenden Kontrollen. Was man auch diskutieren kann sind die Voraussetzungen für Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Gesamtarbeitsverträgen oder die Festlegung von Mindestlöhnen. Über all das kann man reden, aber das braucht ein wenig Zeit. Dann muss man auch sagen: Wir Schweizer sind ja immer totale Musterschüler. Man könnte die Kontrollen auch einfach so weiterführen wie bis anhin. Das gäbe dann Gegenmassnahmen, aber wir hätten bei einem Vertrag den Vorteil, dass die Gegenmassnahmen eben verhältnismässig sein müssen.

 

Ein weiterer Streitpunkt sind die «staatlichen Beihilfen». Der St. Galler Regierungsrat Benedikt Würth befürchtet dadurch ein Ende der regionalen Wirtschaftsförderung, der neue SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard die Schwächung des Service public.
NF: Viele bürgerliche Regierungsrät­Innen – und offensichtlich auch Pierre-Yves Maillard – haben vor allem ein Interesse daran, eine Steuerpolitik weiterzuführen, die gewissen Unternehmen Vorteile bringt. Das scheint mir jetzt nicht im Interesse der Linken, das zu verteidigen.

 

Laut Maillard geht es eben nicht nur um Standortförderung sondern auch um staatliche Unternehmen. Was passiert mit unseren Kantonalbanken, mit den Elekrizitätswerken und den Bergbahnen, unserem Service public? Müssen wir alles privatisieren?
MN: Es kann selbstverständlich nicht sein, dass die EU entscheidet, wie wir uns im Service public organisieren wollen. Das ist ganz offensichtlich, dass es hier eine Klärung braucht, sonst ist das Rahmenabkommen massiv gefährdet.
NF: Es gibt diplomatische Tools, die uns zur Verfügung stehen, einseitige Erklärungen, beidseitige Erklärungen, Zusatzprotokolle, die sollten wir nutzen. Darum muss man nicht ein Abkommen ablehnen, nur weil es noch weiteren Klärungsbedarf gibt.

 

Du Martin, hast ja im P.S. geschrieben, die Briten könnten einem wegen dem Brexit fast leid tun, wenn wir nicht Schweizer wären… Die EU will nicht mehr verhandeln mit den Briten. Wie sieht es bei uns aus?
MN: FDP-Nationalrätin Christa Markwalder macht immer folgenden Vergleich: Wir sind daran, unser Konkubinatsverhältnis mit der EU neu zu regeln, die Briten hingegen stehen vor einer Kampfscheidung. Das ist nicht vergleichbar.
NF: Formell ist fertig verhandelt, aber das heisst nicht, dass man nicht mehr miteinander reden kann.

 

Der Nicht-EWR-Beitritt 1992 hat mich politisiert, aber in den letzten Jahren habe ich Zweifel an der Politik der EU, beispiespielsweise wegen dem Umgang mit Geflüchteten oder der Austeritätspolitik. Meine Begeisterung für Europa ist abgeflacht.
MN: Das geht mir ähnlich. Aber: Wir machen als Linke Politik, weil wir etwas verändern wollen. Wir treten als Stadt Zürich auch nicht aus der Schweiz aus, weil uns gewisse Dinge nicht passen. Wir sehen es heute als selbstverständlich an, dass es Frieden und Wohlstand gibt in Europa. Diese müssen aber immer wieder erkämpft werden. Da soll die Schweiz einen Beitrag dazu leisten, sie hat hier auch eine Mitverantwortung.
NF: Während dem Ukraine-Konflikt konnte ich dort an einer Uni Europarecht unterrichten. Mich hat sehr beeindruckt, dass für die dortigen Studentinnen und Studenten Europa echt eine Schicksalsfrage ist. Europa ist für sie ein Raum des Rechts, der Menschenrechte, des Friedens und des Wohlstands, es ist eine existenzielle Frage, ob man sich auf die Seite von Europa schlägt oder auf die Seite von Russland.

 

Nicht erst seit der Trump-Wahl sind die Globalisierung und der Umgang mit den Verlierern der Globalisierung ein Thema. Der Ökonom Dani Rodrik meint, Globalisierung, Nationalstaat und Demokratie stünden immer in einem gewissen Widerspruch. Ein Beispiel dafür: Griechenland entschied sich in einer Wahl und in einer Abstimmung gegen die Austeritätspolitik. Die EU hat sich dennoch durchgesetzt.
MN: Ich fand die Politik gegenüber Griechenland auch grässlich. Weil ich nie verstanden habe, wie man die Idee haben kann, dass man eine Volkswirtschaft sanieren könnte, in dem man sie aushungert. Aber: Das Problem bestand ja in der Überschuldung und der wirtschaftlichen Schwäche Griechenlands. Die EU hat schliesslich – obwohl es Blut, Schweiss und Tränen gekostet hat – dazu beigetragen, dass man sich wieder stabilisieren konnte. Den angesprochenen Widerspruch gibt es schon, aber es ist eine Illusion zu glauben, in der heutigen globalisierten Welt könne man voll autonom sein. Gewisse Themen wie der Klimawandel, aber auch andere politische und ökonomische Probleme können einfach nicht nationalstaatlich gelöst werden.
Für den Fortbestand der EU scheint mir aber zentral, dass sie ihr Demokratie- und Legitimationsproblem anerkennt. Die EU funktioniert heute zu wenig subsidiär, wie wir Schweizer das sagen würden. Es gab hier durchaus Entwicklungen in die richtige Richtung, wie beispielsweise die Stärkung des europäischen Parlaments, aber die Entwicklung muss weitergehen.

 

In den 1990er Jahren galt die EU für viele Linke als soziales Vorbild. Ist das heute noch so?
MN: Es gibt zaghafte Schritte zu einem sozialeren Europa. Es gibt aber keine gemeinsame Sozialpolitik: Keine Harmonisierung der Sozialsysteme, keinen Lastenausgleich, keine gemeinsame Arbeitslosenversicherung und keine gemeinsame Steuerpolitik. Ich bin aber überzeugt: Ein sozialeres Europa ist für das Lebensgefühl und für die Identifikation mit dem europäischen Projekt mindestens so wichtig wie die Demokratisierung.
NF: Wenn der Markt ausgedehnt wird, und es mehr wirtschaftliche Freiheiten gibt, dann müssen diese sozial abgefedert werden. In der Schweiz hat das immer so funktioniert. Ich hoffe, es gelingt uns wieder.

 

Als Versuch haben wir zum ersten Mal einen P.S.-Podcast aufgenommen.  Hier kann das Gespräch in ganzer Länge angehört werden. Dabei hat die Aufnahme einen kurzen Moment gestreikt, dieser wurde in der Aufnahme herausgeschnitten. 

 

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