Ein schlechtes Gefühl

«Dennoch bleibt nach der Urteilsverkündung ein schlechtes Gefühl zurück – nicht nur, weil die Schreckenstat ohnehin nicht rückgängig gemacht werden kann. Viele von uns wollen dem vierfachen Mörder, der nach einer minutiösen Planung emotionslos unschuldige Menschen umgebracht hat, keine zweite Chance gewähren. Ich gehöre, wenn ich dem Bauchgefühl vertraue, auch dazu. Was braucht es denn noch, um jemanden für immer hinter Schloss und Riegel zu setzen? (…) Unser Rechtssystem geht davon aus, dass jeder Mensch besser werden kann und daher eine zweite Chance verdient hat.»

 

So Stefan Schmid, Chefredaktor des St. Galler Tagblatts in seinem Kommentar zum Urteil im Mordfall Rupperswil. Er gehört zu jenen, die den Täter recht neutral schilderten, nicht von einer Bestie sprachen, ihm relativ wenig Adjektive anhängten (woher nimmt er, dass der Täter «emotionslos unschuldige Menschen umgebracht hat?») und vor allem spricht er den Konflikt zwischen Rache und Schutz vor weiteren Taten, wenn auch mit anderen Worten, recht offen an. Nicht nur der Fall Rupperswil, sondern auch jener Fall aus der Westschweiz, dessen lebenslange Verwahrung das Bundesgericht aufhob, beschäftigte die Rechtsgelehrten, die Medien und auch das Publikum enorm. Selbstverständlich.

 

Mein Problem damit: Unter dem Aspekt der Sicherheit, dem Schutz der Gesellschaft, wurde eine Auseinandersetzung geführt, die darauf hinausläuft, ob Verbrechen existieren, die so schwer wiegen, dass der Betroffene das Gefängnis nie mehr verlassen sollte. Nicht die Fragestellung ist das Problem, sondern der Vorwand der Sicherheit. Statt dass man (und hier oft und auch prominent frau) dazu steht, dass es für Taten (oder noch besser Täter) kein Vergeben und somit auch keine zweite oder dritte Chance gibt, argumentiert man mit der Sicherheit für mögliche künftige Opfer. «Damit meine Tochter nicht vergebens gestorben ist», lautet jeweils die Schlagzeile, die nicht nur der ‹Blick› kennt, mit der man die Opfer zu SprecherInnen der totalen Sicherheit macht. Damit das klar ist: Es ist das gute Recht der Opfer, so zu argumentieren, es liegt mir fern, ihnen vorzuschreiben, wie sie mit der Tat fertig werden. Aber sie sind Partei und wenn sie sich in die politische und juristische Diskussion einlassen oder einspannen lassen, müssen sie mit Widerspruch leben.

 

Der Streit um die lebenslange Verwahrung des letzten Monats hatte insofern Züge von Absurdität oder Rechthaberei, als keiner der Betroffenen, die das Bundesgericht von der lebenslangen Verwahrung bewahrte, davor steht, das Gefängnis oder die Massnahmeanstalt verlassen zu können. Es ging und geht bei diesem Streit im Prinzip lediglich darum, ob die aktuelle Generation entscheidet, was mit diesen Tätern in etwa 20 Jahren geschehen könnte, oder ob man es der dann zuständigen Generation von JuristInnen und PsychiaterInnen überlässt, über die Gefährlichkeit der Betroffenen zu entscheiden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in einer Anstalt sterben, ist sehr viel höher als dass sie nochmals in die Freiheit entlassen werden.

 

Dies wohlverstanden unter dem Aspekt der Sicherheit. Unter dem Aspekt der Strafe oder der Rache kann man auch heute zu einem anderen Ergebnis kommen. Man kann, ohne sich dafür schämen zu müssen, dazu stehen, dass Taten existieren, die kein Vergeben, keine zweite Chance zulassen. Strafe und Gefängnisaufenthalt sind nicht nur eine Möglichkeit des Besserwerdens (oder neutraler ausgedrückt, dem Erwerb einer straflosen Lebensführung), sondern sie beinhalten auch und stark den Aspekt der Rache. Wer einen Mord begeht, kann unter dem Aspekt der Sicherheit sehr rasch wieder in die Freiheit entlassen werden – bei vielen Beziehungsdelikten besteht die Gefahr einer Wiederholung kaum. Aber die Tat verlangt eine Sanktion, eine Rache, die ihre Zeit braucht, bis sie erfüllt ist. Diese Zeit kann auch bis ans Lebensende gehen. Diese Argumentation steckt selbstverständlich auch hinter dem Todesurteil. Wobei ein Todesurteil eine Korrektur nicht mehr zulässt. Auch  für sehr schwere Taten können die Falschen verurteilt werden.

 

Diese trifft allerdings für die Männer, über deren Verwahrung gestritten wird, nicht zu. Sie stehen, teils sogar mit Stolz, zu ihren Taten. Zudem zu Taten, die den Opfern keine Chance liessen. Sie alle starben, weil sie zur falschen Zeit am falschen Zeitpunkt waren. Sie dienten den jeweiligen Tätern nur als Instrument ihrer Triebe.

 

Ich erlebte als Journalist und als Gerichtsberichterstatter in den 90er Jahren den Fall Hauert, jenen Mann, der im Zollikerberg eine junge Frau, die ihm per Zufall über den Weg gelaufen war, missbrauchte und tötete. Im Gerichtssaal sprach er kaum ein Wort. Er bewirkte ein Umdenken in der Strafverfolgung und es gehört zu den bleibenden Verdiensten des damaligen Regierungsrates und späteren Bundesrates Moritz Leuenberger, dass er die Konsequenzen zog. Er und viele von uns nahmen zur Kenntnis (andere wussten es schon immer), dass Personen leben, die zumindest mit den heutigen Therapien unheilbar sind und die, wieder in Freiheit, ihre Taten mit grosser Wahrscheinlichkeit wiederholen. Eine Gruppe, für die lebenslang wirklich bis ans Ende des Lebens bedeuten kann. Ausser es zeigt sich, dass nach Absitzen der Strafe von ihr keine Gefahr für andere ausgeht. Diesen Entscheid trifft eine Kommission aus Fachleuten der Justiz und der Psychiatrie.

 

Dieses System hat sich zumindest aus Sicherheitsgründen ausgesprochen bewährt. Unter anderem, weil nur in die Freiheit oder Halbfreiheit entlassen wird, wer in den Augen der Zuständigen kein Halbrisiko ist – ich rede hier nicht von jenen, die eine Strafe ohne Auflage erhielten. Es ist möglich, dass die Entscheide zu oft im Zweifelsfall gegen den Strafgefangenen fielen, aber es ist auch denkbar, dass die Therapien Fortschritte machen und dass wieder etwas grössere Risiken zugunsten der Antragssteller eingegangen werden.

 

Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass die Verantwortlichen den Täter von Rupperswil entlassen, wenn sie nur einen Hauch von Zweifel an dessen Ungefährlichkeit haben. Oder anders gesagt: Hören wir mit dem Geschwätz der Sicherheit auf, wenn es um Rache oder Strafe geht.

 

Es ist das gute Recht der heutigen Generation, den Massstab für die Beurteilung von Straftaten für sich zu finden, also auch ihre Rache zu nehmen. Aber es ist eine Zumutung, wenn wir heute der nächsten Generation ihre Sicherheitsbedürfnisse definieren. Überlassen wir das dazumal getrost ihnen.

 

Koni Loepfe

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