Ein bunter Strauss an Möglichkeiten

Kryptisch

 

«Sudden Rise» bildet (vermutlich) die Gleichzeitigkeit des ewigen Gut/Böse-Widerspruch multimedial ab.

 

Für Performances oder Tanz aus den USA gilt es zu berücksichtigen, dass dort Auseinandersetzungen mit Pathos und stilisierter Körperlichkeit keine zwingende verinnerlichte kritische Distanz oder Brechung einer Übertreibung benötigen, was aus mitteleuropäischer Sicht tendenziell irritierend wirken kann. Das ewige Dilemma der wechselnden Hoheit von Gut oder Böse müsste theoretisch der Kern von Wu Tangs «Sudden Rise» sein. Auf multimediale Weise wird eine alle Darstellungselemente überlappende Feier zelebriert, die diesen Spagat als auszuhaltende Uneindeutigkeit zum Ausgangspunkt, Inhalt und Fazit gleichermassen hat. Zwischen der Eingangs- und Schlussfrage – «Wie kann Gewalt so ein Balsam sein?» / «Was wird aus all der Schönheit?» – verschmelzen Bewegung, Text, Ton, Licht zu einem sich kontinuierlich wandelnden Tableau. Die Anlage ist hochgradig bedeutungsschwanger, darin aber nicht kenntlich, ob als Anbetung oder Austreibung. Unübersehbar ist das willentliche bis genüssliche Auskosten von Leiden, was den Titel nicht eben verständlicher macht. Die deutsche Übersetzung auf einem Abendzettel ist genauso kryptisch. Der Umgang mit Video ist in den tänzerischen Szenen als deren raffinierte Erweiterung eingesetzt. Dann ist die Lichtbildprojektion wieder simple Diaschau im Fastforward-Tempo und darin erkennbar wird eine wahllose Abfolge menschlichen Bestrebens, diese – religiös konnotierte – Dualität Himmel/Hölle, irdisch/paradiesisch, gut/böse als schon länger bestehend und darum zwingend den Menschen per se quälend zu zeigen. Am Beispiel der schöpferischen Machtdemonstration in Architektur versus der versuchten Problemlösung im konstruktiven Sinn des Ingenieurs, lässt sich ablesen, dass hier jedes Tun (und Lassen) als einzige Überforderung hinsichtlich einer eindeutigen Verortbarkeit zelebriert wird. Aber vielleicht ist es auch ein einziges potemkinsches Dorf. froh.

 

«Sudden Rise», bis 2.10., Pfauen, Schauspielhaus, Zürich.

 

 

Ritus

 

Mit einer absichtlich nicht vollends entschlüsselbaren Riten-Accrochage baut Trajal Harrell einen Projektionsraum.

 

Trajal Harrell ist in Zürich ein alter Bekannter, war er doch schon 2012 Teil der Eröffnung der Gessnerallee unter der Leitung von Roger Merguin und zeigte ebenda seither alle zwei Jahre eine Arbeit. Das jetzt zur Eröffnung der neuen Schauspielhausintendanz in Zürich gezeigte «In the mood for Frankie» war 2016 der Abschluss einer zweijährigen Residenz im Museum of Modern Art New York. Im Zentrum steht ein Catwalk, dessen Fundament aus diversen Materialien besteht und damit schon die Brüchigkeit dessen Konzeptes von Exhibitionismus/Voyeurismus vornewegnimmt. Elemente rural-heidnischer Riten wie Wasser, Steine, Federn deuten in Richtung einer Selbsterhebung in die Sphären einer nachgerade religiösen Prozession. Was im Kontext mit realen Catwalks als treffliche Spiegelung, keinesfalls aber als ironischer Kommentar zu lesen ist. Gemeinsam mit seinen langjährigen Weggefährten Thibault Lac und Ondrej Vidlar begibt er sich auf einen stündigen Trip, der trotz Verschmelzung von Ausdruckstanz, Vogueing und Butho als finale Hinwendung zu etwas Höherem, Erhabenen, Göttlichen erkennbar ist. Womit der Link zur angekündigten inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Muse, die zeitgleich ein Kunstverständnis des genialischen Singulärs voraussetzt, (mit etwas intellektueller Nachhilfe) hergestellt wird. Mit einer breiten Musikspur vom Originalton eines Carnaval do Rio über stampfende Klubmusik bis zur pathetischen Klassik bewegen sich die drei Herren in wechselnder Geschmeidigkeit in- und ausserhalb des vorgegebenen Laufstegs. Primär bleibt jeder für sich. Ihre verschiedene Physis bedient die Urwirkung von Tanz. Einer weit über den baren Körper hinausreichenden Präsenz, die jenseits einer choreographierten Schrittabfolge als mitwirkende Kraft das sportive Tun über das Schweisstreibende allein emporhebt. Ein Ritus als Ausdruck einer Sehnsucht – auch nach Sinn. froh.

 

«In the mood for Frankie», bis 2.10., Schiffbauhalle, Schauspielhaus, Zürich.

 

 

Paradox

 

Offenbar dominiert der innere Widerspruch, modern und rückständig zugleich zu sein, das Frausein per se.

 

Nach ausgedehnten zwei Stunden «Miranda Julys ‹Der erste fiese Typ›» zu urteilen, muss der Feminismus seine letzten 100 Jahre Kampf als vergebene Liebesmüh abschreiben. Der grösste Feind der Frau ist damit jedenfalls, scheints, nicht zu besiegen: Das Paradox von Pflichterfüllung und Selbstbefreiung. Verinnerlicht in einer und derselben Frau. Hier der offenbar unausweichliche Drang, Hauptsache einen Mann (und ein Kind)  haben zu wollen – auch zu einem schier selbstzerstörerischen Preis. Dort der unbedingte Wille, aus dem ewigen Korsett des Heilige/Hure-Stereotyps auszubrechen und die Reduzierung auf die Uterusträgerin zu überwinden. Über all dem thront die Maxime: Geht nicht, gibts nicht. Miranda July lässt mit Clee (Maja Beckmann) und Cheryl (Henni Jörissen) zwei Extreme aufeinander prallen, die Über- und Überhauptnicht-Angepasstheit darstellen. Beider äusseres Verhalten ist fancy-fantastic, beider damit erzieltes Goal ist la grande misère. Das Erbarmen ist flüchtig, wie die Lieder von Brandy Butler. Christopher Rüping inszeniert dieses eigenhändige Abschlachten von Perfektionssehnsüchten in einem Setting von Improvisationskursen in Schauspielschulen. Das bewirkt die Verdringlichung der dauernden neuen Suche nach einem Ansatz, der diesmal, diesmal aber wirklich eine Erlösung oder ein endlich erfolgreicher Ziellauf bringt. Die einzige erzielte Steigerung aber betrifft die Verzweiflung. Die Vereinbarkeit dieser Gegensätze wirkt hier vergleichbar erfolgsversprechend, wie die Zusammenführung von zwei gleichpoligen Magneten. Ergo: Ein Ding der Unmöglichkeit. Das die theatrale Übersetzung davon letztlich selbstredend auch keine Freude sein kann, ist der Inszenierung als Trefflichkeit einer totalen Konsequenz zugute zu halten, ebenso wie das Schlussbild der Gleichung mit der Situation in der extraterrestrischen Schwerelosigkeit. froh.

 

«Miranda Julys ‹Der erste fiese Typ›», bis 3.11., Pfauen, Schaupielhaus, Zürich.

 

 

Türöffner

 

Die beiden Faust-Teile von Nicolas Steman verhalten sich zueinander wie die beiden Seelen in Fausts Brust.

 

Stemanns «Faust I» ist ein hochverdichtetes Konzentrat mit einer wahnsinns einnehmenden Energie, primär hergestellt via monologische Bühnenpräsenzen von Sebastian Rudolph als Faust, Philipp Hochmair als Mephisto und einer sagenhaften Patrycia Ziolskowska, deren Nichtübersiedelung nach Zürich jetzt schon grosses Bedauern auslöst. Diese drei Stunden vergehen im Nu. In den weiteren drei Teilen von «Faust II» (den dritten, also die achte Stunde, hab ich mir geschenkt) kippt die Grundtemperatur total und die Hampelmannkomödie übernimmt das Zepter. Jetzt ist das bekanntlich mit dem Humor der anderen so eine Sache und wie anhand der fünf besuchten Visitenkarten des Eröffnungsfestivals der neuen Schauspielhausintendanz gleich mehrfach zu beobachten war, dürfte das für den eigenen Witz eine recht herausfordernde unmittelbare Zukunft bedeuten. Vermutlich kommt es nicht von ungefähr, dass «Faust I» ins Repertoire übernommen wird und dies keineswegs allein aufgrund der überbordenden Dauer beider Teile zusammen. «Faust I» ist neben der unbestreitbar herausragenden Qualität bislang auch die augenscheinlichste Einladung ans klassische Abopublikum, das nach wie vor am Haus benötigt wird, um nicht ins finanzielle Desaster zu schlittern. Welche Pfeile das neue Team tatsächlich noch im Köcher hat, lässt sich aus diesem Eröffnungsreigen alleine nicht schlussfolgern. An der ursprünglichen Vorstellungspressekonferenz vor den Ferien hiess es, es seien Visitenkarten, die die neue Spannbreite darstellen sollen. Davon, wo und wie die Gewichtung gelegt wird, war keine Rede. Das zu entdecken dürfte bis im nächsten Sommer reichhaltig möglich sein. Mit Nicolas Stemanns «Faust I» ist, selbst wenn ausserhalb Zürichs längst hinlänglich bekannt, schon mal ein sicherer Wert auf dem Spielplan, der für sich allein schon eine breite Bevölkerungsschicht interessieren dürfte, also als Türöffner funktioniert. froh.

 

«Faust I», bis 27.10., Pfauen, Schauspielhaus, Zürich.

 

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