Ein Abend mit den Revolutionären

Vor rund 50 Jahren entstand die Revolutionäre Marxistische Liga, kurz RML, aus der später die Sozialistische ArbeiterInnenpartei (SAP) hervorging. Heute blicken ihre Mitglieder zurück auf eine bewegte Zeit.

 

 

Leonie Staubli

 

 

Lautes Gelächter dringt am Abend des 25. Januar aus dem Blauen Saal im Volks-haus Zürich. Darin sitzen Männer und Frauen durcheinander an Tischen, in Sitzreihen und auf einzelnen Stühlen. Manche essen Sandwiches, andere trinken Bier und alle reden wild durcheinander. Das Ganze wirkt eher wie ein Klassentreffen als wie die Veranstaltung einer politischen Partei. Der Anlass, laut Einladung, ist die online-Aufschaltung einer Sammlung von über 100 politischen Biografien ehemaliger Mitglieder der früheren Revolutionären Marxistischen Liga (RML) und späteren Sozialistischen ArbeiterInnenpartei (SAP) im Schweizerischen Sozialarchiv. Eingeladen hatten Christian Koller vom Sozialarchiv, der auch gleich erklärte, wie die Materialsammlung im Internet zu finden ist, sowie Ueli Gähler, Robert Riemer, Peter Siegrist und Christine Wullschleger, ehemalige Mitglieder der RML/SAP und das Kernteam hinter dem Biografie-Projekt.

 

Über 100 Lebenswege

Mit dem Ziel, den ehemaligen RML/SAP-Mitgliedern eine Stimme zu geben, schlossen die vier sich 2015 zusammen. Etwa 600 Ehemalige konnten sie über die Schweiz verteilt aufspüren. Sie liessen ihnen Fragebögen zukommen, die bisher von über hundert Personen ausführlich beantwortet und retourniert wurden. Die Inhalte der Bögen reichen von Erkundigungen nach dem beruflichen Werdegang und nach der Betätigung in der RML/SAP über spezifischere Themen wie Feminismus, Revolution und Gewalt oder Proletarisierung bis hin zu Fragen nach dem Austritt aus der Partei und der Beurteilung der Geschehnisse und Einsätze aus heutiger Perspektive. Das Organisationsteam spricht von einer «Fülle von vielfältigen Lebenswegen, Engagements, Zweifeln, Hoffnungen und Beurteilungen aus heutiger Sicht».

 

Unterstützt vom Institut d’études politiques, historiques et internationales (IÉPHI) der Universität Lausanne werteten die vier Projektleitenden die Fragebögen aus. Eine emeritierte Professorin der Soziologie und ehemaliges Mitglied der RML/SAP, Jaqueline Heinen, verfasste dann auf dieser Grundlage ein Buch, das ungefähr im April bei Editions Antipodes erscheinen wird, unter dem Titel «1968 … des années d’espoirs. Regards sur la Ligue marxiste révolutionnaire / PSO». Ein Verlag für die deutsche Übersetzung wird noch gesucht. Die einzelnen Lebensläufe sind aber bereits auf der Homepage des Sozialarchivs abrufbar.

 

Heitere Nostalgie

Zur Rekapitulation und «damit auch die jüngeren Anwesenden in die Diskussion eingeschlossen werden», hält Ueli Gähler schliesslich noch ein Referat zur Geschichte der RML/SAP. Von der Gründung im Herbst 1969 über verschiedene Engagements in der schweizerischen sowie der internationalen Politik erzählt Gähler mit viel Humor von den Anliegen und der Entwicklung der Partei. Deren ehemalige Mitglieder «spielten in der Scheiz eine unbestreitbar wichtige Rolle», sagen die ProjektinitiantInnen und heben dabei besonders ihre Bedeutung in der Entstehung des Berufsbildungsgesetzes und der Mutterschaftsversicherung und ihren Einsatz für den Stopp von AKW sowie für die GSoA-Initiative «Schweiz ohne Armee» heraus. Auch von der RML/SAP herausgegebene Zeitungen wie ‹Die Bresche› und ‹Rosso› finden ihre Erwähnung; deren einzelne Ausgaben sind heute ebenfalls ich Schweizerischen Sozialarchiv zu finden.

 

Im Anschluss an die Referate, die einmal von einer kollektiven Umverteilung der Sitzplätze und mehrmals von schallenden Lachsalven unterbrochen werden, laden Wullschleger, Gähler, Riemer und Siegrist zum Gespräch ein. Ganz wie damals lässt sich das nicht gestalten – man kann nicht mehr die ganze Nacht hindurch diskutieren, der Raum muss um 23:00 Uhr abgegeben werden. Trotzdem scheint der unternehmenslustige Geist der RML/SAP in ihren Ehemaligen erhalten geblieben zu sein. Auch ein Rundgang durch den Saal zahlt sich aus; neben Auszügen aus den verschiedenen Lebensläufen und zwei Büchertischen finden sich an den Stellwänden alte Wahlplakate, die besonders schön hervorheben, welche Themen die Schweiz vor 50 Jahren bewegten und mit welcher Mentalität ihre Probleme angegangen wurden. Alles in allem war der Besuch bei der RML/SAP durchweg lohnenswert – und ein Besuch auf der Homepage des Sozialarchivs, wo man sich in den vielen Schilderungen der Geschehnisse aus verschiedensten Perspektiven verlieren kann, kann nur herzlich empfohlen werden.

 

Die Lebensläufe und zahlreiche Fotos sind zu finden unter: www.findmittel.ch/archive/archNeu/Ar65.html

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