Doppelt verschenkt

Eine zum Skandal gewordene Vorlage mit Hora-Schauspielenden zu besetzen, ersetzt nicht die Konfrontation mit dem Kernkonflikt. Doch Milo Rau drückt sich auch darum.

 

Bei Pasolini ginge es letztlich um die Zerstörung sämtlich Schönem und Lebenswertem, wird hier zu Beginn behauptet. Bei aller Liebe: Nein. Bei Pasolini steigert sich die faschistische Allmacht, die sich in den letzten Zuckungen befindet und drum ins Grenzenlose ausufern kann, in eine Quällust zwecks sexueller Stimulation. Diese kaum klar ziehbare Grenze zwischen körperlicher Erregung und den durch kontinuierlich krasser werdende Misshandlungen hergestellten Ekel bilden erst in der Kombination die finale Perfidie bei Pasolini, die einen im Kinosessel schier zerreisst. Und erst aus der geilen Grausamkeit wird die Absolutheit der Perversion des Faschismus und damit dessen Monstrosität dermassen überwältigend, dass die einem damit direkt in die Fresse gekotzte Gretchenfrage der Schuld zur Reflexion regelrecht zwingt.

 

Milo Rau aber separiert Gewalt und Sex. Gewalt wird zum durchschaubaren Filmtrick und Sexualität zur verklemmten Lachnummer. Seine kontinuierlich aufsässiger werdende Anklage richtet sich gegen die Pränataldiagnostik und die statistische Tatsache der mehrheitlichen Abtreibung von Föten bei Verdacht auf Trisomie 21. Michael Neuenschwander spricht vom Erlebnis mit der Konfrontation dieser medizinischen Diagnose – ob real oder fiktiv, ist im Theater unerheblich. Die in der Mehrzahl davon betroffenen Hora-Schauspielenden werden mehrfach als «die letzten ihrer Art» beschrieben und zu ihrem eigenen Kinderwunsch befragt, zu dessen allfälligem Erfüllen sie notabene rein mechanisch nicht mehr in der Lage sind. Während dieser eine Wink mit dem Zaunpfahl in der folgenden Häufung einer forcierten Herstellung von Betroffenheit bald untergeht, bleibt der Umgang der Schauspielenden vom Schauspielhaus mit den Schauspielenden von Hora kapriziert. Der Abend beginnt mit einer Lehrstunde in Grundkenntnissen für Bühnenschauspiel – und das bei einem Ensemble, das die Züriwerk-eigene und vom BBT anerkannte Ausbildung zum Bühnenschauspieler erfolgreich absolviert hat. Natürlich kann man das grosszügig als zu den vielen absichtlich in die Dramaturgie eingebauten Brüche à la Brechtsches episches Theater lesen, aber sehr viel wahrscheinlicher zeugt der gesamte Umgang mit dem Hora-Ensemble während dieser Produktion von einer kompletten Überforderung der Regie (weniger von den Ensemblemitgliedern des Schauspielhauses, aber auch).

 

Ob Jérôme Bel mit seinem weltweit gefeierten «Disabled Theatre» mit dem Theater Hora oder auch Peter Schelling von «Drift» nach seiner ersten Arbeit mit der «Cie. BewegGrund», die Aussagen über die ungewohnte Zusammenarbeit mit Schauspielenden mit Behinderung liefen sämtliche darauf hinaus, den Lerneffekt für die sogenannt nicht behinderten Regieführenden oder Choreographen zu betonen. Diesbezüglich kam Milo Rau vor lauter anderweitiger nebelpetardiger Suggestivfragen mit dem Ziel einer Skandäleliherstellung im Vorfeld zur Uraufführung noch nicht zu Wort. Aber das Resultat auf der Bühne spricht für sich und zeugt daselbst von einem noch nicht überwundenen Hemmnis, die individuellen Stärken der Hora-SchauspielerInnen in sicherlich ein wenig adaptierter Arbeitsweise ebenso professionell zu behandeln wie die Offerten der vier Ensemblemitglieder des Schauspielhauses. Diese Schräglage wird manifest und wird neben der eigenartigen Interpretation von Pasolini zum eigentlichen Ärgernis dieser Produktion. Denn wenn man sich schon mit der Offenheit schmückt, mit dem Theater Hora zu arbeiten, dann bitte auch auf Augenhöhe. Denn dass sie ihr Handwerk beherrschen, haben sie mehrfach bewiesen.

 

«Die 120 Tage von Sodom», bis 12.3., Box, Schauspielhaus, Zürich.

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