Diese Hürde hat’s in sich

Gehört die Fünf-Prozent-Hürde abgeschafft – oder bewahrt sie den Zürcher Gemeinderat vor Zersplitterung und Schlimmerem? Das diskutieren die Gemeinderäte Matthias Wiesmann (GLP) und Davy Graf (SP) in einem Streitgespräch, aufgezeichnet von Nicole Soland.

 

Die Fünf-Prozent-Hürde fordert alle Parteien heraus, sich anzustrengen und möglichst viele Stimmen zu holen. Warum wollen die kleinen Parteien lieber die Hürde abschaffen, als sich der Herausforderung zu stellen?

 

Matthias Wiesmann: Wir Grünliberalen haben die Hürde tatsächlich erst im zweiten Anlauf geschafft. Doch auch kleinere Parteien sollen die Chance haben, ins Zürcher Parlament zu kommen, solche, die an mehreren Orten aktiv und auch in andern Parlamenten vertreten sind wie beispielsweise eine EVP oder eine BDP. Dass die EVP im Zürcher Gemeinderat mit seinen 125 Sitzen bei den Wahlen 2014 trotz einem Stimmenanteil von 2,5 Prozent keinen einzigen Sitz erhielt, ist für mich unverständlich und ungerecht, denn mit diesem Stimmenanteil hätte sie drei Sitze zugute.

 

Die SP steht für Gerechtigkeit, sie setzt sich ein «für alle statt für wenige» – und trotzdem sagt sie hier Nein. Wie ist das zu verstehen?

 

Davy Graf: Es gibt immer wieder Sachgeschäfte, die zwingend vors Volk müssen und wo es entsprechend wichtig ist, dass alle mitbestimmen. Das Parlament jedoch hat eine andere Funktion. Dass heute gewisse Kreise von einer «Krise der Demokratie» reden, liegt aber nicht an der Hürde: Vielmehr können wir dank der Hürde überhaupt noch kohärente und nachvollziehbare Politik machen.

 

Das dürften die Kleinen etwas anders sehen.

 

Matthias Wiesmann: Stimmt, für mich ersetzt das Parlament gewissermassen die Gemeindeversammlung, die sich in so grossen Gemeinden wie Zürich nun mal nicht durchführen lässt. Deshalb lässt man eine repräsentative Auswahl der Wägsten und Fähigsten wählen, und die sollen auch zu Wort kommen im Resonanzraum Gemeinderat. Mit der Hürde schliesst man jedoch einen Teil der WählerInnen (bzw. deren RepräsentantInnen) aus – letztes Mal waren es über fünf Prozent.

 

In einem Parlament geht es immer auch um einen Ideenwettbewerb, darum, dass man mit seinen Vorstössen neue Aspekte einbringen sowie Änderungsanträge zu Vorlagen des Stadtrats oder Vorstössen aus dem Parlament stellen kann. Dieser Wettbewerb und damit die Vielfalt, die wir in unserer Stadt leben, werden wegen der Hürde nicht richtig abgebildet.

 

Was ist wichtiger fürs gute Funktionieren unseres Parlaments: Eine möglichst breite Beteiligung – oder Entscheide, die dank einer stabileren Parteienlandschaft eine grössere Kohärenz erreichen?

 

Matthias Wiesmann: Im Moment haben wir zwei Blöcke, und die Entscheide, die wir fällen, hängen am ehesten davon ab, wer anwesend ist und wer nicht. Das ist in meinen Augen weniger kohärent, als wenn beispielsweise eine EVP mit drei Mitgliedern und vielleicht noch einem BDPler das Zünglein an der Waage spielen könnte. So würde auch die Kraft des Arguments wieder mehr gelten; zurzeit ist es eher die Kraft des Blockdenkens, die sich am Schluss durchsetzt. Damit sich die Kraft des Arguments durchsetzen kann, muss man natürlich Gespräche führen und andere überzeugen, und auch das kann zu ‹zufälligen› Ergebnissen führen. Jedes System hat Stärken und Schwächen, aber aus meiner Sicht ist es keineswegs klar, dass es in unserem Parlament jetzt viel besser läuft, als es laufen könnte, wenn auch ein paar Kleinstparteien vertreten wären.

 

Davy Graf: Interessant ist doch, dass Matthias Wiesmann der Anwalt für die fünf Prozent ist – ich hingegen bin der Anwalt der 95 Prozent, der Anwalt jener, die Parteien mit einer gewissen Verankerung in der Politlandschaft wählen und davon ausgehen, dass das Parlament dann auch das Kräfteverhältnis der 95 Prozent abbildet. Von den kleinen Parteien reden wir bezeichnenderweise immer dann, wenn sie das Zünglein an der Waage sind, wenn sich das Parlament in gewissen Fragen offensichtlich so aufteilt, dass ein paar wenige kleine, thematisch zum Teil sehr fokussierte Parteien den Ausschlag geben können. Und das ist für die 95 Prozent letztendlich eine Schwächung.

 

Wie ist das zu verstehen?

 

Davy Graf: Das Zürcher Parlament fordert seinen Mitgliedern einiges ab; man muss sich in viele komplexe Dossiers reinknien und ist entsprechend froh, wenn die Fraktion eine gewisse Grösse hat, damit man sich die Arbeit aufteilen kann. Wenn jedoch Einzelne das Zünglein an der Waage spielen können, führt das zu einer Art Kabinettspolitik. Kleinstparteien sind zudem häufig thematische Parteien, die auch im Parlament den Fokus auf diesem einen Thema haben, während der Rest Verhandlungsmasse ist und sie sich dafür auch mit andern Parteien und Fraktionen zusammentun. Das aber führt zu einer Politik, die weniger gut lesbar, ja zufällig ist, und das wird der Aufgabe eines Parlaments nicht gerecht: Wie sollen die WählerInnen so nach vier Jahren eine Bilanz ziehen? Und übrigens: Auch wenn die SP-Fraktion die grösste im Zürcher Gemeinderat ist, ist auch sie auf Mehrheiten angewiesen – wobei ich Mehrheiten bevorzuge, die über mehrere Geschäfte und über die Legislatur hinaus gehen. Denn sie gewährleisten, dass die WählerInnen eine kohärente Politik erhalten statt bloss Einzelaktionen, die postwendend wieder verworfen werden.

 

Matthias Wiesmann: Ich gebe dir recht, dass es zu solchen Konstellationen kommen kann, doch auf der anderen Seite ist genau das wiederum ein möglicher Auslöser dafür, dass das Parlament besser arbeitet: Dadurch, dass gewisse Kleinstparteien etwas unberechenbar sind, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die grösseren Parteien wieder häufiger zusammenarbeiten, dass auch wieder mal eine SP mit der FDP oder eine GLP mit den Linken einen Kompromiss eingeht, um diese Stadt voranzubringen. Im Moment ist es ja eher so, dass jeder recht behalten will, und dann schaut man, was der parteilose Mario Babini stimmt. Zudem wäre es auch möglich, dass sich die Kleinen einer Fraktion anschlössen oder gar zusammen eine Fraktion bilden.

 

Die Gefahr der Zersplitterung ist somit bloss etwas, was die BefürworterInnen der Hürde heraufbeschwören?

 

Matthias Wiesmann: Ich gewichte ein repräsentatives Parlament höher; die Gefahr einer Zersplitterung dünkt mich nicht allzu gross.

 

Davy Graf: Natürlich kann man immer zusammenarbeiten. Was mich stört, sind Kleinstparteien, die sich gegenüber ihren WählerInnen als unabhängig anpreisen, nur um sich nach den Wahlen einer Fraktion anzuschliessen und mit dieser zu stimmen. Wird die Hürde abgeschafft, besteht die Gefahr, dass die kleineren Fraktionen, eine AL, CVP oder GLP, geschwächt werden und nicht mehr die Rolle im Parlament spielen können, die sie jetzt haben: Wenn man ein, zwei Kleinstparteien hat, die man einfacher überzeugen kann, warum sollte man dann noch langwierige Gespräche mit diesen Parteien führen und auf Kompromisse hinarbeiten?

 

Mit der Hürde wird die Entscheidung, wieviele Kleine und Kleinste es denn sein sollen, einfach an die WählerInnen delegiert – aber die sagen sich vielleicht auch, ich will sicher sein, dass meine Stimme nicht im Kübel landet, also wähle ich FDP statt EVP oder GLP: Das ist doch auch nicht fair.

 

Davy Graf: Hürden gibt es immer. Für einen der 125 Sitze im Zürcher Parlament braucht es aufgerundet 0,4 Prozent der Stimmen. Mal angenommen, man würde finden, 40 Sitze reichten auch; dann wären 2,5 Prozent nötig: Ob dann die gleichen, die jetzt gegen die Hürde sind, von einer «unfairen Reduktion der Sitzzahl» reden würden? Immerhin haben die Stimmberechtigten unser Wahlsystem, den doppelten Pukelsheim, 2004 mit grossem Mehr gutgeheissen, und 2011 wurde eine Initiative, welche die Reduktion der Hürde auf zwei Prozent verlangte, mit 64 Prozent Nein abgelehnt. Die demokratische Legitimation der Hürde steht somit auf soliden Füssen.

Matthias Wiesmann: Letzteres ist unbestritten, nur: Als die Initiative 2011 zur Debatte stand, waren die Wahlen 2010 noch in frischer Erinnerung; damals hatten es lediglich die EDU und die PFZ nicht geschafft, womit nur 1,1 Prozent der Stimmen im Kübel landeten. Das Problem war somit absolut nicht akut. 2014 jedoch landeten über 5 Prozent der Stimmen im Kübel, und die EVP verlor wegen 17 Stimmen ihre drei Sitze. Angenommen, das passierte beispielsweise auch noch der CVP – dann wären wir schon bald bei 10 Prozent und müssten von einem Systemfehler reden.

Der Pukelsheim wurde ja gerade eingeführt, weil es ungerecht ist, wenn kleine Parteien in einem kleinen Wahlkreis Null Chancen haben. Doch als der Pukelsheim dann kam, dachte sich wohl einer, jetzt haben die Kleinen ja wahnsinnig gute Chancen – und so wurde mit der Einführung der Hürde quasi die ganze Reform wieder zunichte gemacht. 5 Prozent in einem Wahlkreis sind zudem total willkürlich; wenn schon, hätte man eine gesamtstädtische Hürde festlegen müssen. So aber kann sich ein Quartierkönig durchsetzen, aber eine Partei mit einer soliden, wenn auch kleinen Wählerschaft in der ganzen Stadt  nicht.

 

Also doch: Die Grossen wie die SP haben ein Problem damit, etwas von ihrer Macht abzugeben?

 

Davy Graf: Ich finde das eine interessante Argumentation: Im Gemeinderat schlugen die Grünen vor, statt der aktuell neun nur noch drei Wahlkreise zu machen, aber das hat die Mehrheit – die GLP eingeschlossen – abgelehnt. Man wollte die Eigenheiten der Kreise auch via Wahlsystem abgebildet haben. Die Verankerung in wenigstens einem Wahlkreis bedeutet in Schwamendingen, dass man 200 WählerInnen hinter sich scharen muss, in ganz Zürich Nord sind es 650 – es braucht also nicht wahnsinnig viele, die finden, diese oder jene Kleinpartei sei eine politische Kraft, die im Rat mitreden müsse. Gibt es noch mehr Kleine und Kleinste, dann kommt noch häufiger vor, was jetzt schon passiert – dass sich niemand findet, der nachrückt, wenn jemand zurücktreten will, oder dass Schulpflegesitze verwaist bleiben. Selbst die GLP hatte schon solche Probleme, und sie ist zurzeit fünftgrösste Fraktion.

 

Die einzige ungerechte Hürde sehe ich in der Tatsache, dass immer mehr Menschen kein politisches Amt übernehmen können, weil ihnen im Berufsleben die dafür nötige Zeit nicht zugestanden wird und weil das politische Engagement obendrein zeitintensiv und damit wenig familienfreundlich ist.

 

Matthias Wiesmann: Ich stimme dir darin zu, dass es ein Problem ist, dass immer weniger Berufsgruppen überhaupt noch die Möglichkeit haben, sich politisch zu engagieren, aber das hat nichts mit dem Quorum zu tun, im Gegenteil: Gerade wenn die Repräsentativität abnimmt, müssen wir die Hürde abschaffen und wieder mehr Menschen und Parteien an der Parlamentsarbeit beteiligen.

 

Davy Graf: Auf der linken Seite stellen sich nicht wenige ihre Liste aus VertreterInnen von SP, Grünen und AL zusammen; würde die Hürde abgeschafft und verlöre die SP deswegen drei Sitze, dann wäre das frustrierend für die Abgewählten und das Wahlkampfteam, aber die Politik in unserer Stadt würde es überleben: Auf linker Seite klopft aber niemand an die 5 Prozent; Gewinner wären am ehesten EDU, SD, BDP und die EVP, die im Rat ab und zu mit uns stimmte.

 

Matthias Wiesmann: Die Juso, die AL und die Grünen sind aber in unserem Komitee…

 

Davy Graf: Die Juso sind auf der SP-Liste willkommen und haben dort auch Chancen. Wir Linken haben zudem immer dann verloren, wenn wir untereinander uneins waren; wir können nur vereint gewinnen, das ist allen klar.

 

Kommen wir zum Schluss: Warum stimmt Davy Graf Nein zum «fairen Wahlrecht für Züri», und warum sagt Matthias Wiesmann Ja?

 

Davy Graf: Wir sollten sorgfältig mit unseren Institutionen umgehen; wir haben zurzeit ein Wahlrecht, das sich bewährt hat, Zürich steht gut da, verschiedene Meinungen sind vertreten, und die Stadt kommt voran. Kurz: Was gut funktioniert, soll man nicht ändern.

 

Matthias Wiesmann: Die willkürlich gesetzte Hürde ist unfair gegenüber kleinen Parteien, die auch partizipieren wollen, verhindert grössere Vielfalt und beschränkt den Ideenwettbewerb im Parlament.

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