«Die Sektionen haben unglaublich viel gearbeitet, es gab nichts gratis»

Nach dem Wahlsieg in der Stadt ist vor den Wahlen im Kanton – zuerst einmal bietet er aber eine gute Gelegenheit für einen Rück- und Ausblick. Diesen liefern die Co-PräsidentInnen der SP Stadt Zürich, Gabriela Rothenfluh und Marco Denoth, im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Es ist Montagmorgen nach dem Wahlsieg der SP und von Rot-Grün insgesamt. Wie fühlen Sie sich?

Gabriela Rothenfluh und Marco Denoth: Grossartig!

G. R: Etwa so, wie wenn man frisch verliebt auf Wolke Sieben schwebt … (lacht) Glücklich!

 

Dabei hatten Sie doch genau das angesagt: Endlich wieder eine linke Mehrheit im Gemeinderat.

M. D.: Moment: Wir sprachen davon, dass wir uns 64 Sitze für Rot-Grün erhofften und davon mindestens 40 SP-Sitze, also einen WählerInnenanteil von 30 Prozent. Ich habe immer an dieses Ziel geglaubt. Erreicht haben wir eine Mehrheit von 69 Sitzen, davon 43 SP-Sitze, was 32,7 Prozent WählerInnenanteil entspricht. Damit haben wir unser Ziel deutlich übertroffen, und das ist schlicht überwältigend.

G. R.: Kommt hinzu, dass wir das letzten Sommer sagten, als wir noch nicht wissen konnten, welch starker medialer Gegenwind uns in diesem Wahlkampf entgegenblasen würde.

 

Die NZZ ist nun mal kein linkes Blatt…

M. D.: Sicher, von der NZZ hatten wir erwartet, dass sie uns angreifen würde, nicht aber vom ‹Tages-Anzeiger› – oder zumindest nicht in diesem Ausmass.

 

Sie haben dessen Berichterstattung als gezielte Kampagne wahrgenommen?

M. D.: Es sah ganz danach aus. Damit mussten wir leben; in den krasseren Fällen verlangten wir auch mal eine Richtigstellung, was selten etwas brachte.

 

Sie hätten sich auch öffentlich darüber beklagen können.

M. D. Das war kein Thema für uns, und es wäre uns auch nicht in den Sinn gekommen, unsern Wahlkampf deswegen zu ändern.

G. R.: Wir sind mit der Überzeugung an den Start gegangen, dass wir die Politik umsetzen, die ein Grossteil der Wählerinnen und Wähler in Zürich will. Bei Sachabstimmungen spricht sich im Durchschnitt eine Mehrheit über 70 Prozent für unsere Vorschläge aus, beim Wohnen oder in der Verkehrspolitik sind es je nachdem noch mehr. Wir machen Politik für die Zürcher Bevölkerung, und wir bieten Lösungen an für jene Probleme, die jeweils im Sorgenbarometer zuoberst rangieren. Da-ran wollten wir festhalten: Wir zeigen den Leuten unsere Inhalte, und für die können sie uns dann wählen oder auch nicht.

 

Wahlkampftechnisch waren Sie eher auf Facebook aktiv als mittels klassischer Zeitungsinserate, oder täuscht der Eindruck?

M. D.: Wir hatten eine Facebook-Gruppe, die Meldungen der gegnerischen Seite und der Medien schnell aufgenommen, da-rauf reagiert und diese Reaktionen auch verbreitet hat. Das hat gut funktioniert.

G. R.: Dass wir relativ wenig Zeitungsinserate machten, stimmt, doch wir setzten auch nicht in erster Linie auf Facebook, sondern auf unsere Basiskampagne. Diese startete letzten Herbst mit dem sogenannten Tür-zu-Tür, also dem Anklopfen an Türen potenzieller WählerInnen, mit denen wir so ins Gespräch kamen. Während dieser Touren und pa-rallel dazu in einer ersten Telefonaktion führten wir eine Umfrage durch und holten so die Anliegen und Wünsche der Bevölkerung ab. Eine zweite Telefonaktion führten wir schliesslich während der letzten Wochen des Wahlkampfs durch.

 

War diese Form der Schlussmobilisierung tatsächlich nötig?

M. D.: Sich darauf zu verlassen, dass gleichzeitig über No Billag abgestimmt wurde, wäre jedenfalls eine schlechte Idee gewesen. Natürlich hat diese Abstimmung auch einen Einfluss gehabt, aber entscheidend war unsere Politik und die Tatsache, dass unsere Basis in jedem Wahlkreis aktiv unterwegs war. Alle haben mitgemacht und zusammengehalten; das war das Tolle an diesem Wahlkampf.

 

Es gab auch Patzer – Ihr Interview in der NZZ, in der Sie sich ausgerechnet für einen Seetunnel aussprachen, dürfte Sie eher Stimmen gekostet haben.

G. R.: Das brachte uns ein total breites Spektrum an Reaktionen ein: Die einen verstanden es so, dass wir uns damit wirklich «für alle» einsetzten, andere lasen es als Statement für ein U-Bahn-Revival, wieder andere als Beispiel dafür, dass man die Stadt über ihre Grenzen hinaus denken muss – und einige fragten uns auch entsetzt, ob wir tatsächlich einen Seetunnel wollten. Was natürlich nicht der Fall ist …

M. D.: Wichtig ist doch, dass man sich von festgefahrenen Positionen lösen und seinen Denkhorizont erweitern kann.

G. R.: Es gab schwierige und positive Reaktionen, aber der Rummel ist auch bald wieder verebbt. Dafür mussten wir in diesem Wahlkampf fast den Kopfstand machen, um überhaupt Inhalte aufs Tapet zu bringen – und auch dann war die Resonanz gering. Dafür hiess es dann zwei Wochen vor den Wahlen im TA und der NZZ, der Wahlkampf sei langweilig, da inhaltsleer…

 

Wie beurteilen Sie rückblickend den Rückzug von Stadträtin Claudia Nielsen kurz vor den Wahlen?

M. D: Während der ständigen Attacken auf Claudia Nielsen sahen wir uns etwas in die Rolle derjenigen gedrängt, die nur reagieren können, ja müssen. Nachdem sie ihren Verzicht bekanntgegeben hatte, rückten wieder andere Themen in den Vordergrund.

G.R: Ich bin zwar nach wie vor überzeugt, dass Claudia Nielsen die Wiederwahl geschafft hätte, doch nach ihrem Rückzug haben die Sektionen super reagiert und übernahmen unseren Aufruf «jetzt erst recht» umgehend. Die Basis fand, von diesem unerwarteten Ereignis dürfe man sich nicht abhalten lassen. Stattdessen konzentrierten sich alle umso mehr auf die Gemeinderatswahlen. Wie wir jetzt wissen, hat das bestens funktioniert. Dieses «Nicht aufhalten lassen» hat mich beeindruckt.

 

Es ist geschafft, Rot-Grün hat die Mehrheit. Damit dürfte sich auch die Arbeit im Gemeinderat ändern.

M. D.: Wir haben nun eine neue Rolle, denn wir haben noch 20 Stimmen nötig, um die Mehrheit zu erreichen. Das eröffnet uns Spielraum für Koalitionen über jene mit den Grünen und der AL hinaus. Doch wir müssen unsere künftige Rolle im Gemeinderat natürlich erst noch im Detail anschauen, gerade auch zusammen mit unseren StadträtInnen.

G. R.: Wir haben eine Aufgabe gefasst: Die Leute sind offensichtlich mit unseren Inhalten einverstanden, jetzt müssen wir vorwärts machen. Stichworte dazu sind der Bau von weiteren zahlbaren Wohnungen, sichere Velowege und generell Verbesserungen in der Verkehrspoltik. Zu den Strassen gehören beispielsweise auch Plätze fürs Quartier, doch daran mangelt es manchenorts noch. Doch es dürfte schon einfacher werden, diese Aufgaben zu erfüllen.

 

Im Stadtrat können in der neuen Legislatur auch die Ämter neu verteilt werden. Wie nehmen Sie bei diesem Thema Ihren Einfluss wahr?

M. D.: Der 4. März steht bekanntlich für die Abwahl von Filippo Leutenegger aus dem Tiefbau- und Entsorgungsdepartement … Wir müssen aber aufpassen, dass wir uns nicht plötzlich benehmen, wie es etwa in Deutschland eine neu gewählte Regierung zu tun pflegt: Sie macht in den ersten zwei Jahren alles rückgängig, was die abtretende Regierung in den letzten zwei Jahren angestellt hat. So funktioniert es hierzulande nicht. Aber wir werden durchaus gewisse Projekte vorantreiben, die schon lange in der Pipeline sind, die Leutenegger verdrängt hat oder die aus diversen Gründen auf der langen Bank gelandet sind. Jetzt ist Schluss mit Rauszögern.

 

Was bedeutet das konkret?

M. D.: In unserem Wahlprogramm stand zum Beispiel, dass wir 10 000 zahlbare Wohnungen fordern. Diese müssen jetzt so schnell wie möglich gebaut werden. Und bei der Veloinitiative gilt es, Druck aufzusetzen.

G. R.: Es liegt heutzutage nicht mehr drin, einfach das Fällen von Bäumen vorzuschlagen, um Platz für Velowege zu schaffen. Doch es hat tatsächlich nicht überall Platz für Autos, Velos, FussgängerInnen und Bäume. Folglich gilt es überall abzuwägen, welche Verkehrsträger berücksichtigt werden sollen. Autos sollen dann nicht mehr an erster Stelle kommen oder  müssen halt auch mal einen Umweg machen, denn in der Stadt wollen wir primär den öV und den Langsamverkehr fördern. Ich hoffe auf einen entsprechenden Sinneswandel in der Verwaltung. Sollte dieser nicht kommen, müssen wir klarstellen, dass es so nicht geht.

 

Mit ihrem Wahlsieg war die Zürcher SP nicht allein: Auch in Winterthur hat die SP gewonnen, und in Schlieren und Dietikon haben es SP-Mitglieder in die Exekutive geschafft: Haben Sie davon profitiert, dass die Linke generell im Aufwind ist?

G. R.: Die Erfolge in den Städten sind natürlich grossartig. Sie gilt es insofern in einen gesamtschweizerischen Zusammenhang zu stellen, als dass sie auch eine Reaktion auf die letzten nationalen Wahlen sind: Unterdessen sind nicht wenige WählerInnen zum Schluss gekommen, dass es vielleicht nicht so schlau war, eine rechtsbürgerliche Mehrheit in Bern wirken zu lassen. Diese Politik, die häufig an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei geführt wird, wollen die Leute nicht auch noch auf lokaler Ebene.

M. D.: Wenn die ParlamentarierInnen anfangen, Botschaften des Bundesrats zu zerpflücken, bis sie ihnen rechtsbürgerlich genug erscheinen, dann kommt das nicht gut an. Man kann es auch ‹unschweizerisch› nennen. Dafür haben die Bürgerlichen jetzt die Quittung bekommen. Bleibt zu hoffen, dass sich dies bei den nächsten nationalen Wahlen wiederholt.

G. R.: Man kann beispielsweise nicht einfach Rentenalter 67 fordern und gleichzeitig akzeptieren, dass die Leute mit 55 auf die Strasse gestellt werden und keine Arbeit mehr finden. Das geht nicht auf.

 

Dabei heisst es doch immer, es seien die Linken, die keinen Draht zu den Arbeitern mehr hätten und bloss noch Politik für Reiche machten …

G. R.: Wenn wir unsere Politik weiterverfolgen, dann sind wir auch weiterhin die Partei, die sich für arbeitende Menschen einsetzt.  Wer eine Ahnung von Zürich hat, weiss, dass von der aktuellen Bevölkerung rund die Hälfte einen Hochschulabschluss hat und dass es nicht nur in Zürich, sondern generell kaum mehr Jobs für klassische ArbeiterInnen, also Ungelernte gibt. Wir machen Politik für die ‹Normalsterblichen›, für jene, die vom Lohn ihrer Arbeit leben, und das merken die Leute.

 

Mal bgesehen von den städtischen Themen, an denen Sie dranbleiben wollen: Wie geht es weiter, was folgt als nächstes?

M. D.: Als nächstes wollen wir als Partei Schwung aufnehmen für die Kantonsratswahlen vom April 2019.

G. R.: Dort ist die Mehrheit zwar ausser Reichweite, aber es sollten schon ein paar Sitze mehr zu holen sein. Der nun zuende gegangene Wahlkampf hat ja auch gezeigt, dass sich selbst auf gutem Boden nur dann etwas erreichen lässt, wenn sich alle so richtig ins Zeug legen. Die Sektionen haben unglaublich viel organisiert und gearbeitet, es gab auch für uns nichts gratis. Diesen Einsatz braucht es auch in Zukunft.

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.