«Der Gegenvorschlag ist ein Schritt zurück in die 1960er-Jahre»

Der Gegenvorschlag zur Anti-Stau-Initiative und liberale Politik? Das geht nicht zusammen, findet GLP-Gemeinderat und Verkehrsplaner Sven Sobernheim. Was sonst noch für ein Nein am 24. September spricht, erklärt er im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Die Grünliberalen gehören, wie der Name schon sagt, zu den «Liberalen». Denen ist das Auto normalerweise heilig – oder zumindest scheint es sie nicht zu stören, wenn dieser Eindruck entsteht. Die Zürcher Grünliberalen sehen das offensichtlich anders?

Sven Sobernheim: Wir Grünliberalen haben in den letzten Jahren gezeigt, dass es uns nicht darum geht, das Auto zu verteufeln. Wir wollen auch die Elektromobilität fördern und setzen uns für Ladestationen ein, die flächendeckend eingerichtet werden sollen, auch in der Blauen Zone. Die GLP hat gezeigt, dass sie eine Daseinsberechtigung fürs Auto sieht. Wir müssen uns einfach überlegen, wie wir den Platz verteilen wollen. Und im Hinblick darauf – und abgesehen von jenen Fahrten, die nun mal sein müssen – ist das Auto dasjenige Verkehrsmittel, das wir am wenigsten fördern wollen, denn es beansprucht am meisten Platz. In den Städten Zürich und Winterthur sind wir auf einem guten Weg, einen Kompromiss und ein gutes Nebeneinander zu finden. Das nun wieder zu bremsen und in die entgegengesetzte Richtung zu drehen, ist weder im Interesse der VerkehrsteilnehmerInnen noch der GLP.

 

Aber die Initiative nütze doch gerade dem guten Nebeneinander, sagen die BefürworterInnen.

Kommt darauf an, wem von den BefürworterInnen Sie zugehört haben: FDP-Regierungsrätin Carmen Walker Späh sagt, es ändere sich nichts, das Ja-Komitee wiederum erklärt, wenn man die Kapazität beibehalte, verflüssige sich der Verkehr… Entschuldigung, aber wenn ich eine Halbliter-Petflasche mit Wasser habe und nichts daran verändere, dann läuft das Wasser nicht plötzlich schneller oder besser raus. Die BefürworterInnen versuchen mit Argumenten, die plausibel tönen, aufzuzeigen, dass sie angeblich nichts Schlimmes machen. Doch wenn man etwas festschreibt, indem man ein Mindestmass festlegt, dann kann man dieses Mass später nicht mehr einfach unterschreiten, man kann keine Güterabwägung mehr machen und keine Änderungen mehr vornehmen, sondern dieses Mass ist zementiert. Wird der Gegenvorschlag angenommen, ist die Priorisierung des motorisierten Privatverkehrs in der Verfassung festgeschrieben, und man hat im Einzelfall, beispielsweise bei einer Ortsdurchfahrt auf dem Land, gar keinen Spielraum mehr, sondern müsste Grundstücks- und HausbesitzerInnen enteignen, um ein Trottoir bauen zu können.

 

Ist das nicht etwas übertrieben? Die BefürworterInnen betonen doch, es gehe lediglich darum, die allgemein anerkannte Bedeutung des motorisierten Privatverkehrs endlich auch in der Verfassung zu verankern.

Der Verkehr ist bereits in der Verfassung drin, es gibt einen Passus, in dem festgehalten ist, dass der Verkehr fürs Gewerbe aufrechtzuerhalten sei. Zudem hat sich gar niemand gegen den ersten Teil der Verfassungsänderung gewehrt, welche die Initiative fordert: Dass der Kanton «für ein leistungsfähiges Staatsstrassennetz für den motorisierten Privatverkehr» sorgen soll, geht für mich in Ordnung; das macht sie zudem längst.

 

Die Stadt Zürich stehe an sechster Stelle der staureichsten Städte der Welt, sagen die BefürworterInnen.

Kommt darauf an, welches Ranking man nimmt: In einer Verkehrsstudie des amerikanischen Verkehrsinformationsdienstes INRIX steht sie an sechster Stelle, im Traffic-Index 2017 des Navigationsunternehmens TomTom für Europa auf Rang 41 bei «Städten aller Grössen», wie der Antwort des Stadtrats auf eine schriftliche Anfrage zu entnehmen ist.

 

Zurück zur Abstimmungsvorlage: Der erste Teil sei nicht das Problem, sagten Sie. Wo steckt es also?

Das Problem ist der zweite Satz, den der Kantonsrat hineingeschrieben hat. Er besagt, dass eine Verminderung der Leistungsfähigkeit einzelner Abschnitte im umliegenden Strassennetz «mindestens auszugleichen» sei. Das heisst: Wenn man auf einer Staatsstrasse etwas verändert, muss man dies logischerweise im umliegenden kommunalen Strassennetz ausgleichen, eine andere Möglichkeit hat man ja nicht. Kommt hinzu, dass wir stets von der theoretischen Kapazität reden. Selbst wenn die Kapazität nicht genutzt wird, müssen wir sie aufrechterhalten: Wenn beispielsweise eine Kantonsstrasse im Weinland nur zur Hälfte ausgelastet ist, dann muss deren Kapazität künftig trotzdem erhalten bleiben. Und das versteht nun wirklich niemand.

 

Das ist die eine Auslegung; Sie haben auch die andere erwähnt – dass sich angeblich gar nichts ändert. Weshalb also die Aufregung? Es steht schon vieles in der Verfassung; einen Passus mehr verträgt es doch allemal.

Das sehe ich nicht so. Die Kantonsverfassung ist unsere Grundlage. Wenn wir uns nun sagen, gut, schreiben wir einfach alles in die Verfassung rein, ohne daran zu glauben, dass es etwas bewirkt oder etwas ändert, dann müssen wir uns früher oder später eingestehen: Das kann es nicht sein. Wir haben auf Bundesebene vor nicht allzu langer Zeit unsere Verfassung ziemlich aufgeräumt gehabt; unterdessen ist es schon bald an der Zeit für eine neuerliche Aufräumaktion. Auf Kantonsebene möchte ich das nicht auch noch haben. Was man zudem leicht vergisst: Was in der Verfassung steht, ist einklagbar.

 

Es gibt also mehr Rechtsfälle?

Möglicherweise, ja. Dass es häufig zu Verzögerungen kommt, wenn der Rechtsweg beschritten wird, ist zudem bekannt. Wenn man irgendwann für jedes Projekt bis vor Bundesgericht gehen muss, dann steht fest, dass wir vor allem eine Beschäftigungstherapie für unsere bereits jetzt überlasteten Gerichte geschaffen haben, und das will ja auch niemand.

 

Die Initiative und nun auch der Gegenvorschlag sind doch vor allem gegen die Stadt Zürich gerichtet, die bekanntlich verkehrspolitisch anders tickt als der Kanton.

Mag sein, dass die Initiative ursprünglich als Strafaktion gedacht war. Doch bei einem Ja wäre leider die ganze Kantonsbevölkerung betroffen: In Winterthur wäre die Buspriorisierung nicht mehr möglich, in Uster und Wetzikon ebenso, kleinere Gemeinden im Weinland könnten ihre Ortsdurchfahrten nicht mehr in Tempo-30-Zonen umwandeln, und so weiter. Beziehungsweise es müsste in solchen Fällen konsequenterweise eine weitere Umfahrung gemacht werden, was wiederum viel Platz, Grünraum und Geld kosten würde – und zudem etliche weitere Rechtsfälle produzierte.

 

In der Stadt Zürich lässt sich doch jetzt schon nichts derartiges machen – siehe Bellerivestrasse.

Für die Bellerivestrasse bietet sich der Kompromiss an, den meine Fraktionskollegen Markus Merki und Matthias Wiesmann im Gemeinderat vorgeschlagen haben. Die entsprechende Motion ist unterdessen als dringlich erklärt worden. Nun hat der Stadtrat einen Monat Zeit, um dazu Stellung zu nehmen. Wir sind überzeugt, dass nebst dem Zürcher Gemeinde- und Stadtrat auch der Kanton dahinter stehen könnte: Unser Vorschlag beinhaltet statt der heutigen vier Spuren ohne Velomassnahmen neu je eine Spur stadtaus- und stadteinwärts sowie eine Spur in der Mitte, die zu den Spitzenzeiten am Morgen für den Verkehr stadteinwärts und am Abend stadtauswärts geöffnet würde. Damit hätte es Platz, um einen Velostreifen pro Fahrtrichtung zu markieren. Mit solchen Kompromissen kann man arbeiten, denke ich – doch auch solche Vorschläge wären bei einem Ja künftig nicht mehr möglich, denn auch mit dieser Massnahme würde theoretisch Kapazität abgebaut. Dabei würde der Verkehr auf diese Art gleich flüssig bleiben wie heute – so man heute von ‹flüssig› reden kann.

 

Die Idee ist gut, doch die Chance, dass sie verwirklicht ist, dürfte eher gering sein, wenn man bedenkt, welchen Wirbel nur schon der Abbau einer nicht mehr benötigten Fahrspur am Bellevue verursachte. Da könnte man doch genausogut leer einlegen.

Leer einlegen ist immer eine schlechte Idee. Wer das macht, hat sich entweder zu wenig mit der Vorlage auseinandergesetzt, um sich eine Meinung bilden zu können, ist hin- und hergerissen – oder hat gar keine Meinung. Wenn man schon nach seiner Meinung gefragt wird, sollte man sich eine solche bilden. Unser System mit regelmässigen Volksabstimmungen ist ein Privileg, wie ein Blick ins Ausland zeigt. Das sollten wir nutzen.

 

Dennoch: In der Stadt hat man jetzt schon häufig das Gefühl, nichts machen zu können. Sobald es heisst, Moment, das ist eine Staatsstrasse, sind Ideen für Velowege oder Tempo-30-Zonen normalerweise gestorben.

Gut, wenn sich ein freisinniger Tiefbauvorsteher und eine freisinnige Volkswirtschaftsdirektorin über den Verkehr unterhalten und zum Schluss kommen, es lasse sich nichts machen, dann lautet des Rätsels Lösung möglicherweise ganz einfach, dass beide nichts machen wollen. Natürlich ist es das gute Recht der Genannten, so zu denken; das will ich ihnen sicher nicht absprechen. Für uns heisst es, dass wir einen langen Atem brauchen, um eine vernünftige Verkehrspolitik zu machen. Bekommen wir nun aber einen Verfassungsartikel, der noch mehr in die Richtung dessen zeigt, was sich der Freisinn in Sachen Verkehrspolitik vorstellt, braucht es künftig einen noch längeren Atem, noch mehr Rechtsmittel, die Verkehrspolitik wird noch teurer und unplanbarer, die Verwirklichung unserer Ideen noch unrealistischer. Wir müssen uns überlegen, welche Verkehrspolitik wir uns für die nächsten 30 Jahre wünschen: Wollen wir ein Tram Affoltern, sichere Fussgängerquerungen und die Möglichkeit, Tempo-30-Zonen zu erschaffen, auch in Quartierzentren? Lautet die Antwort ja, dann können wir uns diese Verfassungsänderung schlicht nicht leisten.

 

Was ist, wenn der motorisierte Privatverkehr künftig einen Elektromotor hat und folglich nicht mehr lärmt und stinkt?

Wie bereits erwähnt: Wenn es nicht ohne Auto geht, etwa im Gewerbeverkehr, dann bevorzugen wir Grünliberalen die Elektromobilität, und folglich setzen wir uns auch für deren Förderung ein. Elektroautos sind auch in Ordnung, wenn es darum geht, die negativen Auswirkungen des Verkehrs wie Lärm und schlechte Luft zu mildern. Klar ist allerdings: Das Platzproblem lösen wir damit nicht. Das lösen wir nur, indem wir noch mehr Verkehr auf den öV und aufs Velo verlagern. Es können auch Elektroroller sein; die brauchen zwar etwas mehr Platz als Velos, aber immer noch weniger als Autos.

 

Das Recht auf freie Wahl des Verkehrsmittels ist, glaubt man der FDP, ein urliberales Privileg, das man keinesfalls aus der Hand geben darf. Warum sehen die Grünliberalen das anders?

Es ist mitnichten liberal, für einen Verkehrsträger ein «mindestens» in die Verfassung zu schreiben und ihn damit gegenüber allen andern zu bevorzugen. Liberal ist, eine Güterabwägung zwischen verschiedenen Verkehrsträgern vorzunehmen, wie wir es heutzutage machen – und nicht mehr machten könnten, wenn der Gegenvorschlag angenommen würde.

 

Zusammengefasst: Aus liberaler Sicht muss man am 24. Nein stimmen, weil der Inhalt der Vorlage nicht liberal ist?

Genau. Die Vorlage ist ein Schritt zurück in die 1960er-Jahre. Ich bin aber optimistisch, dass gerade Agglomerationsgemeinden wie Uster oder Wetzikon schon sehen, was da gespielt wird, und dass uns diese Verfassungsänderung erspart bleibt.

 

Werden Sie eigentlich darauf angesprochen, dass Ihre Partei bei dieser Abstimmung mit Rot-Grün zusammenspannt?

Nein, warum auch? Wir zeigen als Mittepartei, dass wir thematisch mit beiden Seiten zusammenarbeiten können. In der Verkehrspolitik arbeiten wir häufig mit Rot-Grün zusammen, wobei wir auch schon Vorstösse gemacht haben, bei denen wir überzeugt waren, dass sie auch von der FDP unterstützt werden müssten, was dann leider nicht der Fall war. Und wir zeigen mit unserem Fokus auf Themen, dass das Rechts-Links-Blockdenken der Vergangenheit angehört.

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