Sein Deckname war «Barba Svizzera»

aufgezeichnet von Tim Rüdiger

 

Als Sandro Pedroli an einem Junimorgen im Jahr 1968 seine Hausarztpraxis am Albisriederplatz aufsuchte, stand eine grosse Gruppe Jugendlicher vor seiner Tür. «Da habe ich gemerkt, dass in der Nacht zuvor etwas geschehen sein musste.» Es waren die Verletzten der Globuskrawalle, verprügelt von der Polizei. Pedroli war in Zürich bekannt, die Jugendlichen wussten, dass man ihm trauen konnte: «Einer wollte aus Angst nicht preisgeben, wie er hiess. Ich habe ihm geantwortet, er solle mir einfach irgendeinen Namen angeben, sodass ich das Röntgenbild wiederfinde.» Im Anschluss an die Krawalle unterschrieb Sandro Pedroli neben Max Frisch und neunzehn weiteren Persönlichkeiten das «Zürcher Manifest». Darin stellten sie die Unruhen in einen globalen politischen Kontext und schlossen sich den Forderungen der Jugendlichen nach einem autonomen Kulturzentrum an. «Ich konnte mir das erlauben, weil ich als Arzt unabhängig war. Einige Patienten haben meine Praxis deswegen zwar verlassen, doch andere sind dazugekommen.»

Seine Praxis hat er bereits vor mehr als 25 Jahren geschlossen, der 93-Jährige erzählt in seiner Wohnung im obersten Stock eines 60er-Jahre-Blocks in Altstetten. Mit seiner Frau und vier Kindern zog er nach Fertigstellung ein. Nach dem Tod seiner Frau lebt Pedroli hier alleine.

 

Durch den Krieg zur Politik

Geboren 1923 in Bellinzona, zog Sandro Pedroli früh nach Turin, wo sein Vater die Linoleum-Vertretung fürs Piemont führte. Subtil wehrten sie sich bereits früh gegen den italienischen Faschismus: «Mein Bruder Guido weigerte sich mit neun Jahren, in der Schule faschistische Lieder zu singen.»

Während eines Ferienaufenthalts in der Schweiz wurde Mussolini gestürzt und Italien von den Nazis besetzt. Um zu seinen Eltern zurückzukehren und das Medizinstudium in Turin abzuschliessen, bedurfte es eines Visums des deutschen Konsulats.

Durch den Partisanenkrieg fand er zur Politik. Seine Klinik war ein bedeutendes Zentrum des antifaschistischen Widerstands: «Da ist man plötzlich dabei. Ohne es zu wollen und ohne es zu wissen.» Er schloss sich der Widerstandsgruppe «Giustizia e Libertà» an – stolz zeigt er heute seinen Partisanenausweis. Sein Deckname «Barba Svizzera» hat damals wohl funktioniert: Der Jüngling auf dem Foto zeigt kein Anzeichen von Bartwuchs. «Wir haben Zeitschriften gedruckt und in Umlauf gebracht. Hie und da habe ich auch ein paar Waffen herumgetragen.» Genug, um auf der Stelle hingerichtet zu werden. Einmal habe er eine Pistole in eine schöne Parfümschachtel verpackt, sagt er und lacht. Eine besonders brenzlige Situation: «Eines Abends widersetzte sich mein damals siebzehnjähriger Bruder der Ausgangssperre und wurde von einer faschistischen Gruppe aufgegriffen. Weil ihn einer davon gekannt hatte, haben sie ihn nicht gleich erschossen, sondern nach Hause gebracht. Dort legte der Gruppenführer seine Mütze auf eine Plastikabdeckung. Darunter befand sich unsere Matrize mit dem Text für den Aufruf zum Aufstand in den folgenden Tagen…»

Bei Kriegsende am 25. April 1945 war Sandro Pedroli damit betraut, ein Gaswerk zu schützen. «Ganz in der Nähe fanden noch Kämpfe statt. Zum Glück ist niemand gekommen», lacht er, «wir hatten gar nicht genug Munition und Schiessen konnte ich eigentlich auch nicht. Eigentlich eine dilettantische Aktion.» Bis heute ist er Ehrenpräsident des «Comitato 25 Aprile», das an diesem Datum in Zürich alljährlich eine Erinnerungskundgebung organisiert.

 

Das antifaschistische Herz schlug weiter

Nach dem Abschluss des Medizinstudiums kehrte er gleich in die Schweiz zurück. Bevor er auf Bitten des späteren Nationalrats und SGB-Präsidenten Ezio Canonica nach Zürich kam, arbeitete für kurze Zeit im Tessin. Hier wurde er 1950 Mitglied der SP und blieb es bis heute. Noch immer gehört er zur kleinen Sektion Bodio – ganz zum Leidwesen der SP Zürich, die ihm gerne den «Prix Enzo» für langjähriges Engagement als Basismitglied verliehen hätte.

Dabei habe er sich in Zürich gar nie wirklich in der Partei engagiert. «Ich weiss nicht genau wieso. Ich hatte einfach immer verschiedene Dinge daneben.» Dazu gehörten die Antiatombewegung oder Hilfsmissionen mit der ‹Centrale Sanitaire Suisse› (heute ‹Medico International›) nach Vietnam, Kambodscha und Eritrea. Aber auch das antifaschistische Herz schlug weiter: Bis zum Sturz Francos war er Präsident des Komitees für eine Amnestie für politische Gefangene in Spanien. In den 60er-Jahren liess er sich trotzdem zweimal von der Partei für eine Nationalratskandidatur überreden. «Ich habe keinerlei Propaganda gemacht und bin erst einen Tag vor der Wahl aus den Ferien nach Hause gekommen. Trotzdem bin ich auf dem dritten Ersatzplatz gelandet, was ich als Anerkennung für meine Arbeit empfand.» Gewählt hätten ihn vor allem die Jugendlichen.

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