Das Elend dieser Welt

Ich war ja lange Zeit meines Lebens mit einem furchtbar schlechten Gedächtnis gesegnet. Kurz- und Langzeitgedächtnis. Egal wann etwas geschehen war, wie eindrücklich, grossartig, fürchterlich oder gar für mein Leben entscheidend, ich vergass es früher oder später. Also eher früher. Als mein Mann mich einmal mit Ferien auf einer wunderschönen griechischen Insel überraschte (nachdem er sich vorgängig natürlich erkundigt hatte, ob ich denn schon in Griechenland gewesen sei), stellte ich, gerade mit dem Schiff am Hafen angekommen, sofort fest: Oh, das kenne ich. Und erinnerte mich in eben diesem Augenblick an meine mehrwöchige Griechenlandreise, damals als Teenager, mit meiner besten Freundin. Irgendwie war mir das zwischenzeitlich entfallen. Ich vergass tatsächlich fast alles. Filme, die ich gesehen hatte, Bücher, ich hatte ganze Phasen meines Lebens komplett vergessen (so die Primarschulzeit, weite Strecken der Sekundarschule, erst ab Gymnasium fällt mir dieses oder jenes wieder ein), Liedertexte sowieso, schöne, aber eben auch wüste Erlebnisse. Das Geheimnis meiner langen Beziehung ist ja unter anderem, dass uns nie der Gesprächsstoff ausgeht. Mein Mann kann mir bei Bedarf die gleiche Geschichte immer wieder erzählen und sich meiner totalen Begeisterung und Aufmerksamkeit sicher sein, ich höre es ja immer zum ersten Mal. Er kann mich gar nicht langweilen. Wir werden uns bis ans Ende unseres Lebens etwas zu sagen haben. Schön.

Ja, ich hatte ein gutes Leben. Natürlich hatte diese Vergesslichkeit in schulischer Hinsicht gewisse Nachteile, manchmal war dieser oder jene auch etwas beleidigt, weil ich ihn oder sie nicht mehr erkannte, aber so im Allgemeinen war mir sehr unbeschwert zumute. War. Nun gibt es Anzeichen, die mich beunruhigen. Ich erinnere mich nämlich plötzlich an Sachen. Schlimmer noch, ich kann gewisse Dinge überhaupt nicht mehr vergessen.

Es ist, als hätte das Elend dieser Welt in Zahlen und Bildern von meinem Gedächtnis Besitz ergriffen. Sobald ich eine ruhige Minute habe, sehe ich Flüchtlinge auf schneebedeckten Strassen in viel zu wenig Kleidern, ich sehe verstaubte Kinder, die gerade einen Bombenangriff überlebt haben, ich kann die eine alte Frau nicht mehr vergessen, die so furchtbar verwahrlost und einsam aussah, und das alles mischt sich mit Zahlen, die sich an mir festgekrallt haben. 795 Millionen Menschen auf der Welt haben nicht genug zu essen, das heisst einer von neun geht jeden Abend hungrig ins Bett. Mehr als 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Davon 11,6 Millionen Syrerinnen und Syrer. Fast drei Millionen Kinder sterben jährlich an den Folgen von Unterernährung. Seit Beginn des Syrienkrieges starben gemäss Schätzungen von Nicht-Regierungs-Organisationen etwa 400 000 Menschen. Rund 260 000 Kinder in der Schweiz sind von Armut betroffen. Seit 2014 starben mehr als 10 000 Menschen auf ihrer Flucht übers Mittelmeer. Über 3000 waren es alleine dieses Jahr, das heisst im Durchschnitt stirbt einer von 29 auf der Überfahrt.

Es war kein besonders gutes Jahr, oder? Und es werden keine besonders schöne Weihnachten, denn ich kann mich nicht versöhnen mit dem sinnlosen Sterben, Leiden, Hungern. Ich kann es nicht und will es nicht. Und so werde ich die Zeit über die absurd anmutenden Festtage dazu nutzen, mir zu überlegen, was ich Gescheites dagegen tun könnte. Naiv vielleicht, ich weiss, aber was soll man sonst tun, wenn vergessen nicht mehr geht. Und sei es nur, dass mir dann einfällt, dass es gut wäre, wenn es allen ginge wie mir: Dass sie sich immerzu erinnern müssen an das Elend dieser Welt.

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