Bildungs-Utopie

André Stern ging nie zur Schule. Das hat seine Mitmenschen verblüfft, denn er ist überhaupt kein Versager. Er hat es sogar geschafft, seine Leidenschaft – die Musik – zum Beruf zu machen. Immer wieder musste er Auskunft geben über seine verwunderliche Kindheit. Nun hat er darüber ein Buch geschrieben. Darin betont er immer wieder, dass er aus seiner Lebensgeschichte keine Mission machen möchte; er hält seinen Bildungsweg selber gar nicht für mehrheitsfähig. Er legt einfach sehr genau von seinen Lehr- und Wanderjahren Zeugnis ab. Sehr wohl stellt er aber gewisse Dogmen der Pädagogik infrage.

 

Obwohl Stern nie zur Schule ging, lebte er keineswegs bildungsfern oder tollte nur auf der Strasse herum. Er hatte sehr wohl Unterricht – nur nicht in herkömmlichen Klassen. Kinder in Zwangsgemeinschaften gleichen Jahrgangs zu stecken, findet er abwegig und der Bildung wenig förderlich. Menschen müssten unter Menschen sein – gleich welchen Alters. Er besuchte rege Freizeitkurse, das Malatelier seines Vaters Arno Stern, er hatte Musikunterricht, und es fanden sich immer wieder Kunsthandwerker, die bereit waren, ihm in einer Art Privatlehre ihre Fertigkeiten weiterzugeben, etwa im Kupferschmieden oder im Gitarrenbau. Dass seine Eltern praktizierender Kunsttherapeut und ehemalige Kindergärtnerin bzw. Hausfrau waren, kam seinem Bildungshunger sicher auch entgegen. Zwischen den Kursen gab es ausgedehnte Phasen eines eigentümlichen spielerischen Selbststudiums, indem das Kind Arno sich für alle möglichen Dinge interessierte und ihnen über längere Zeit hartnäckig nachging: Lesen, Schreiben, Autos, Rechnen, Mechanik, Instrumente, Musik, Theater usw. Umfangreiches Wissen leitete er aus eigenen Beobachtungen ab, fand es aber auch in Bibliotheken und den unzähligen Büchern seiner Eltern. Aus eigenem Antrieb fertigte er von Klein auf Journale über seine Erkenntnisse an. So durfte er, seiner Intuition folgend, im eigenen Tempo spielend, entdeckend und vertiefend lernen. Heute ist er überzeugt, dass das Spiel die wichtigste Lebensform ist – wobei das spielerische Lernen eben oft mit immenser Akribie und grösstem Ernst geschieht.

 

Als Pädagogin frage ich mich, ob so ein Lernweg nicht doch ein allgemeines Modell für Bildung hergeben könnte. Wie viele Kinder passen einfach nicht ins vorgesehene Curriculum! Spielverhalten, sportliche Tüchtigkeit, emotionale Reife, Ehrgeiz, Ordnungssinn, Arbeitshaltung usw. – alles muss sich innerhalb enger Zeitfenster entwickeln. Folglich gibt es so viele VersagerInnen! Einige können mit kleinen Kindern bestens spielen oder finden locker den Draht zu Erwachsenen – aber von Gleichaltrigen werden sie geplagt. Andere haben von Klein auf ausgeprägte künstlerische Begabungen – aber was zählt das schon im Zeugnis und für die Promotion? Auf Sekundar-Niveau C begegnen mir Schüler, die sich wegen Lese- oder Konzentrationsschwächen mehr schlecht als recht abmühen – und doch sozial, technisch oder handwerklich versiert wären. Für viele von ihnen ist die Schule eine Leidenszeit. Was musste man aber auch im Gymnasium nicht alles mit Mühe und Not in den Schädel pauken, das seither nie mehr aktiviert wurde!

 

Ich wünsche mir daher Schulen, in denen die Neigungen der Kinder früher zur Geltung kommen, aktiv unterstützt werden und auch promotionswirksam sind; Schulen, die nicht mit standardisierten Tests mangelnde Wirtschaftstauglichkeit aufspüren oder verschmähtes Wissen «spielerisch» einflössen müssen – sondern Gemeinschaften von Erwachsenen und Kindern sind, die die Ressourcen haben und den Rahmen bieten, in dem jedes Kind zu seinem persönlichen Lerneifer finden kann.

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