Ausweitung des Themenspektrums

Eine Stunde vor dem Demonstrationsumzug des ‹Zurich Pride Festival› in Erinnerung an die Geburtsstunde der modernen Homosexuellen-Emanzipationsbewegung am 27. Juni 1969, als die BarbesucherInnen im Stonewall Inn in der New Yorker Christopher Street die Nase von der dauernden Polizeischikane gestrichen voll hatten und zur handfesten Gegenwehr ansetzten, war am vergangenen Samstag die Münsterbrücke noch das übliche Postkartensujet für Frischvermählte aus dem nebenstehenden Stadthaus. Das Festtagskleid in Unschuldsweiss hätte den einen oder die andere der LGBT-Community (Lesbian, Gay, Bi, Transgender) wohl mit Sehnsucht erfüllt, weil diese traditionelle Symbolik auch schmerzlich vor Augen führt, dass ihnen diese Wahlfreiheit explizit verwehrt wird. Natürlich wurden die zentralen Forderungen der vergangenen Jahre nach der Öffnung der Ehe – für alle, die Aufhebung der Verbote für künstliche Befruchtung und der Adoption wiewohl die Abschaffung der psychiatrischen Diagnosen und medizinischen Massnahmen für Transpersonen, also die Anerkennung von binären Transmenschen, in der Grussbotschaft der Dachverbände wiederholt. Aber im Mittelpunkt standen dieses Jahr unumstritten die LGBT-Flüchtenden und ihre gesteigert erschwerte Situation aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung oder der sexuellen Identität und der fehlenden Berücksichtigung im Schweizer Asylrecht.

 
Alecs Recher, Regula Ott und Köbi Kehl verlasen je ein Schicksal einer geflüchteten Person, weil die Betroffenen selber sich davor fürchten, öffentlich aufzutreten. Die Angst vor negativen Konsequenzen eines Outings betreffen das Leben im Asylzentrum, eine mögliche Auswirkung auf das laufende Verfahren und ein durch die Erwähnung im Dossier drohendes Zwangsouting im Herkunftsland bei Rückschaffung. Alecs Recher benannte den Zwiespalt, für die Flüchtenden einerseits die Stimme zu erheben, andererseits aber nur zweite Wahl zu sein, weil gemeinhin vorwiegend Privilegierte über andere reden und über sie entscheiden, und fragte rhetorisch: «Sind wir zufrieden, wenn das mit uns passiert?» Er zitierte das Credo der frühen Aidsaktivisten «Nothing about us – without us» und forderte so alle Anwesenden auf dem Münsterhof auf, selber aktiv zu werden und nicht nur den Hetero/as zuzuhören, seien sie noch so nett und unterstützend. Das waren die politischen RednerInnen Sibel Arslan, Jacqueline Fehr, Christa Markwalder und Peter Küng natürlich alle und dankten für das jahrzehntelange, mitunter renitente Einstehen für die Verbesserung der eigenen Rechte und sicherten ihre Unterstützung auf dem Weg zur kompletten Gleichstellung zu. An diesem Festtag formerly known as ‹Christopher Street Day› beschleicht einen mitunter ein Anflug von Euphorie, die aber jäh auf dem harten Pflaster der Realität aufschlagen kann, wenn beispielsweise die Onlinekommentare zum Bericht über den Vorstoss von Alan David Sangines für eine bedarfsgerechte Schutzunterbringung für LGBT-Flüchtende überflogen werden.
 
Hauptsächlich aber bestand dieses Jahr mehrfach Grund zur Freude. Mit der Wahl des Mottos «No Fear To Be You» wurde das Themenspektrum, in dem eine Vielzahl von nötigen Veränderungen nach wie vor errungen werden müssen, vom Monoblock Heiraten und Kinderadoptieren der letzten Jahre wieder ausgeweitet und nicht zuletzt das Solidaritätsbewusstsein gestärkt. Ein Bewusstsein, das sich in einzelnen Protestnoten von Demonstrierenden gegen den Ausverkauf der politischen Emanzipationsbewegung alias ‹Pink Money› äusserte – siehe Bilderseite 3 – und auch die Reihenfolge im Umzug veränderte, so dass Inhalt voranging und Sponsoring nach hinten rücken musste. «Meine Diskriminierung ist keine Werbeplattform für Konzerne und Parteien», stand auf dem Plakat eines jungen Mannes, und auch konkret antikapitalistische Tiraden gegen die den Anlass sponsernden Grossbanken waren zu lesen. Zuletzt eine grosse Freude war die Alternative einer nichtkommerziellen Queerfestivität auf dem Koch-Areal, was die Vielfalt der LGBT-Community deutlicher abbildet als das grosse Fest der Einigkeit auf dem Kasernenareal. Denn nicht nur den Flüchtenden gehört die eigene Stimme verliehen, die Solidarität dürfte innerhalb der Splittergrüppchen der Community durchwegs wieder bewusster gelebt werden. Bisexuelle wehren sich seit Jahren gegen ihre Marginalisierung, und dass Tunten, Lederkerle, Lesben, Transpersonen und Queens jeden Alters und jeder körperlichen Exponiertheit ganz selbstverständlich unter dem Jahr gemeinsam Feste feierten, ist in der eigenen Erinnerung leider schon Jahrzehnte her. Die Fragmentierung der verschiedenen Szenen in ihre Einzelteile ist länger schon zu beobachten, was der politischen Durchsetzungskraft der nur gemeinsam zu erreichenden Forderungen nicht eben automatisch zupass kommt. Die Ausweitung des Themenspektrums via Pride-Motto ist nicht zuletzt auch hilfreich im Bezug auf die Vermittlung und Aufklärung der breiten Bevölkerung über die Vielfalt und Vielzahl der Steine, die von der LGBT-Community noch aus dem Weg geräumt werden müssen, um das Ziel der egalitären Gleichstellung – oder wie es Fritz Lehrer im Grusswort der Dachverbände formulierte: den Zugang zu allen gesesllschaftlichen Lebensgemeinschaften – weiterhin konsequent und mit Nachdruck zu verfolgen.
 
Je breiter und vielfältiger die Argumentationsstränge sind, desto eher ist eine Trotzreaktion der reflexhaften Abwehr à la «die schon wieder, jetzt ist aber mal genug» möglicherweise abzufedern. Denn die Information über die realen Gegebenheiten, also der tatsächlichen Folgen von Diskriminierung und Ungleichbehandlung und insbesondere deren Fülle sind einprägsam vermittelt, das geeignetste Vorgehen, ein Verstehen und eine Nachvollziehbarkeit in kritischen bis ablehnenden Haltungen zu erreichen. Dranbleiben. Laut bleiben. Fordernd bleiben. Oder wie es Jacqueline Fehr formulierte: «Weiter so – bleibt stark –, wir brauchen euch, denn von eurem Freiheitskampf profitieren wir alle. (…) Ihr kämpft für eine Welt, in der die Menschen verschieden sein dürfen und macht sie somit gerechter.» So gut es tut, solch ermunternde Worte zu hören, die Fortschrittchen, die von der LGBT-Community eins ums andere erstritten werden mussten und weiter müssen, können den kräftigsten Kampfgeist arg strapazieren. Dafür ist das Gemeinschaftsgefühl der Pride da: Energie tanken – und weitermachen.
Thierry Frochaux

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