Ausnahmslos

 

Ursprünglich wollte ich nichts zu den Ereignissen in Köln schreiben. In einem Leitartikel nach dem Terroranschlag in Paris habe ich geschrieben, dass bei solchen Ereignissen die Stunde der Idioten schlägt. Wenn es um Krieg, Terror oder Verbrechen geht, wenn es also schnell emotional wird, dann meide ich Diskussionen in sozialen Medien. Differenzierung ist auf 144 Zeichen schwer. Und emotionale Diskussionen führt man besser von Angesicht zu Angesicht. Weil man sich besser erklären und austauschen kann. Oder auch mal keine Antwort haben muss.

 

Auch ich reagiere emotional. Es regt mich auf, wer sich jetzt alles zum Frauenrechtler erklärt. Zum Beispiel Leute, die sich sonst beim Stichwort «sexuelle Belästigung» darüber beschweren, dass Frauen nicht mehr mit Komplimenten umgehen könnten. Es regt mich auf, wenn die Ereignisse von Köln dazu missbraucht werden, um Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen. Oder wenn man jeden mit nordafrikanischer Herkunft unter Generalverdacht stellt. Diese Differenzierung muss aber gemacht werden, wie Sascha Lobo auf ‹Spiegel Online› schreibt: «Hier ist der Scheidepunkt, und er ist schmerzhaft, weil Differenzierung nur eine Armlänge von Verharmlosung entfernt ist. Und weil die berechtigte Erschütterung über die Angriffe zu Wut führt, also der am wenigsten nach Hintergründen und Zusammenhängen fragenden Emotion. Und trotzdem bleibt sie zwingend notwendig, denn Differenzierung ist Zivilisation.»

 

Differenzierung heisst auch Kontext. Es ist klar, dass Gewalt an Frauen keine nordafrikanische Erfindung ist. Sondern leider Alltagserfahrung von zu vielen Frauen. Hier und anderswo. Tatsächlich ist die Armlänge zwischen Differenzierung und Relativierung aber kurz.

 

Zum Beispiel wurde gelegentlich – zum Beispiel in der ‹Süddeutschen Zeitung› – das Oktoberfest angeführt, um aufzuzeigen, dass Belästigungen und Vergewaltigungen auch quasi urdeutsche Vergehen sind. Das ist zwar nicht per se falsch, aber irgendwie auch nicht ganz richtig. Denn nicht alles, was hinkt, ist auch ein Vergleich. Ich finde es grundsätzlich ärgerlich, wenn man ein tragisches Ereignis gleich mit einem anderen aufwiegt. Zudem passieren am Oktoberfest gemessen an der Anzahl Personen weniger Übergriffe als in der Kölner Silvesternacht. Und sie sind auch nicht organisiert oder vorsätzlich.

 

Ich habe im letzten Sommer einen Vorstoss gemacht, der zu einigen Schlagzeilen geführt hat. Dieser wollte, dass die Polizei die Nationalität von Verbrechern nur dann nennt, wenn sie für die Tat relevant ist. Nun wollen einige von mir wissen, ob ich nach Köln die Meinung geändert habe. Habe ich nicht. Mein Anliegen war und ist es, dass man keine Stimmung und Hetze auf dem Buckel von Unschuldigen machen soll. Es ging nie darum, zu propagieren, dass man unliebsame Fakten unter den Teppich kehrt. Und wir forderten auch nicht schlampige Polizeiarbeit. Sondern nur, dass man keinen Zusammenhang konstruiert, wo es keinen gibt. Es ging darum, dass man sich die Frage der Relevanz in jedem Fall ernsthaft stellt.

 

Nun hatte ich aber in den letzten Tagen plötzlich das Gefühl, es gebe tatsächlich Leute, die unliebsame Tatsachen lieber ausblenden wollen. Ich finde es richtig, wenn man differenziert hinschaut und dass man nicht nur mit dem Finger auf andere zeigt, sondern auch den Balken im eigenen Auge wahrnimmt. Weder Deutschland noch die Schweiz sind feministische Musterländer. Aber ich verstehe ehrlich nicht, warum man nicht festhalten kann, dass es doch ein paar Länder gibt (darunter auch in Nordafrika), die vom Musterland noch einiges weiter entfernt sind. Dass es patriarchalische Länder gibt, in denen Frauenbewegung und sexuelle Revolution eben noch nicht stattgefunden haben. Und das durchaus eine Ursache von sexueller Gewalt an Frauen ist. Das gleiche gilt für Übergriffe auf Schwule. Niemand hat ein Problem damit, festzustellen, dass es in anderen Ländern ein noch grösseres Gefälle zwischen reich und arm gibt als in der Schweiz. Auch wenn es hier auch Ungleichheit gibt. Warum geht das nicht, wenn es um die Lage der Frauen geht?

 

Der Frühsozialist Charles Fourier schrieb 1808: «Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Mass der allgemeinen Emanzipation.» In Diktaturen und Bürgerkriegsgebieten ist die Freiheit von Männer und oft im Besonderen von Frauen beschränkt. In unserer demokratischen und rechtstaatlichen Gesellschaft ist das besser. Diese Freiheit und diese Rechte müssen aber auch verteidigt werden. Dazu gehört das fundamentale Recht darauf, sich frei und ohne Angst bewegen zu können. Und zwar jederzeit und überall. Es ist auch klar, dass Regeln und Gesetze für alle gelten. Selbstverständlich auch für Flüchtlinge.

 

Die Gesetze müssen aber auch durchgesetzt werden. Die Kölner Polizei hat gleich eine ganze Reihe von Fehlern begangen. Sie hat offensichtlich die Lage an Silvester unterschätzt. Und sie hat darauf verzichtet, Unterstützung anzufordern. Damit hat sie den Opfern den Eindruck vermittelt, dass sie nicht auf die Hilfe der Polizei zählen können. Dann hat die Kölner Polizei mehrfach widersprüchlich und teilweise auch falsch kommuniziert. Indem sie zuerst noch von einem Erfolg redete und erst später von den Übergriffen. Indem sie zuerst bekanntgab, dass keine Flüchtlinge beteiligt waren. Indem sie erst davon sprach, dass die Diebstähle das Ziel waren und nicht die Übergriffe. Nur um dann einräumen zu müssen, dass eben doch alles anders war. Für Empörung sorgten auch die Verhaltenstipps an Frauen, wie sie sich brenzligen Situationen entziehen sollen. Gleichzeitig gaben die Polizei und ihre Gewerkschaft bekannt, dass es schwierig oder unmöglich sei, die Schuldigen zu finden und zu verurteilen. Die Botschaft, die hängen bleibt: Frauen, wir helfen euch nicht. Helft euch selbst, indem ihr eine Armlänge Abstand haltet oder am besten gleich zu Hause bleibt.

 

Gleichzeitig gibt es Hetzjagden auf Ausländer, Bürgerwehren, die sich formieren. Der Kulturkampf tobt. Nach dem Terroranschlag vom 11. September wurde eine Dichotomie «Wir gegen die Anderen» konstruiert. Sich dem zu verweigern, ist richtig. Der Feind eines Feindes wird dadurch aber nicht zum Freund. Die Feinde der Freiheit, der Aufklärung und der Menschenrechte sind die Frauenfeinde und Fanatiker überall. Nicht nur hier.

 

Wehren wir uns gegen sexualisierte Gewalt und gegen Rassismus, und zwar ausnahmslos, wie dies deutsche Feministinnen mit einem Aufruf gemacht haben, der hier unterzeichnet werden kann: ausnahmslos.org. Und nutzen wir die Chance, wie es Laurie Penny in einem Artikel auf ‹The New Statesman› geschrieben hat, dass jetzt sogar die Rechte die Frauenrechte entdeckt hat. Und gehen gegen sexuelle Gewalt konsequent vor, egal von wem sie begangen wurde. Nutzen wir aber auch die Chance, darauf hinzuweisen, dass es dazu mehr braucht, als sich zu empören. Es braucht eben auch Prävention, Aufklärung und ein Umdenken bei den Geschlechterrollen. Dabei wird sich zeigen, wie ernst es der Rechten mit den Rechten der Frau wirklich ist.

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