Ausbruch, Reflexion, Unrast

Noch bis zum 2. September ist in Zürich vielfältiger, doch bereits archivierter Widerstand in plakativer Form zu besichtigen. «Protest!» – mit Ausrufezeichen. Eher fragend zeigt der Begleitband, dass aus dem Vergangenen auch einiges für die Zukunft zu lernen wäre. Und ein Unrast-Handbuch regt dazu an, radikale politische Aktivitäten nachhaltiger zu gestalten.

Hans Steiger

 

Es war eine gute Idee, das mit Nostalgie überladene «68»-Jubeljahr mit der Frage nach Formen und Wirkung oppositioneller Bewegungen davor und danach zu verbinden. Orte, Stichworte, Namen von der Website der Zürcher Hochschule der Künste gepflückt: Paris, Globalisierung, Frauenrechte, Trump, Käthe Kollwitz … Plakate sind der Kern. «Begleitet von Protestsongs, Videos und Bildern aus dem virtuellen Raum stellt die Ausstellung engagierte Gestalter vor und beleuchtet unterschiedliche Strategien des Protests.»

 

Rückblickend für Zukünftiges?

In einem von Verantwortlichen und Studierenden der Hochschule herausgegebenen, klug konzipierten Begleitband erhalten die Gegenwart und Fragen nach einer «Zukunfts­praxis» zusätzlichen Raum. Basil Rogger verschiebt in der Einleitung den Akzent zudem weg vom Protest, hin zu dem, was diesem folgen müsste, um nicht wirkungslos zu verpuffen oder missbraucht und vermarktet zu werden. Wenn der Protest als «konstitutiv», als ein bereits vieles prägender Anfang verstanden wird, darf er nicht nur ein Zeichen des Widerstands gegen die vorherrschenden politischen Bedingungen sein. Er müsste mehr, «insbesondere etwas Positives wollen». Angesichts der Erfolge von rechtspopulistischen Parteien, der Erosion und Zersplitterung aller Öffentlichkeiten brauche es auch ein «Ja zur Pflicht, für die eigenen Rechte einzustehen», sowie das «Ja zum Recht der Machtlosen. Unterdrückten, Marginalisierten, ihre eigenen Anliegen öffentlich kundzutun». Damit ist im derzeit recht unübersichtlichen Polit­umfeld eine ethische Position markiert.
Nach anfänglich reichlich Theorie, die den plakativen historischen Bilderbogen fundiert, werden im letzten Drittel vor allem neue Aktionsformen, zumal aktuelle Interventionen aus dem Kunstbereich beleuchtet. Besonders gefiel mir dort ein nachdenklicher Zwischenruf von Jörg Scheller, der angesichts des rundum medial geschürten Krachs nach Beispielen für «Schweigen, Stille und Graswurzelarbeit» suchte und solche in der Geschichte der Protestbewegungen auch fand. Etwa bei Rosa Parks. Mit ihrer Weigerung, einen nur für Weisse reservierten Sitzplatz zu räumen, gab sie 1955 den Anstoss für den Montgomery Bus Boykott, der nach dem Urteil von Martin Luther King zum Katalysator im Kampf gegen die Rassensegregation in den Südstaaten der USA wurde. «Quiet Strength», stille Stärke, lautete der Titel ihrer 1995 publizierten Memoiren. Mit einem eindrücklichen Foto wird an einen 1917 in New York gegen die rassistische Gewalt gerichteten Schweigemarsch von 10 000 Menschen erinnert. 1977 begannen in Buenos Aires die stillen Proteste der Mütter von Verschwundenen auf der Plaza de Mayo. 2013 fand eine symbolstark stumme Demo in Istanbul auf dem Taksim-Platz statt. «Wer öffentlich schweigt, erklärt sich nicht nur mit einer Sache nicht einverstanden, sondern kritisiert auch, wie darüber kommuniziert wird.» Vielleicht eine Weise, nicht auf die «lärmende populistische Diskurslogik» hereinzufallen, deren sich bei uns eine SVP bedient? Für den Kunstwissenschaftler und (Metal-)Musiker ist es eine hei­kle Versuchung, nun ähnliche linke Strategien zu entwickeln, Parole gegen Parole zu setzen und damit die Polarisierungen weiterzutreiben. «In der Gesellschaft des Spektakels haben Zwischentöne einen schweren Stand.»

 

«Andere, bessere soziale Praxis»

Später wird allerdings eingeräumt, dass «das Nachdenken über solche Feinheiten des Protests» ein Privileg ist. Wir hier können nur spekulieren, «wie es sich anfühlt, in einer Diktatur zu demonstrieren», schreibt Hans-Christian Dany in der Einleitung zum letzten Kapitel. Ohnmachtgefühle kommen aber auch, ja gerade in unseren «sich demokratisch wähnenden» Ländern auf, wo der Liberalismus als enger Verbündeter des Kapitalismus den Protest zum Ritual macht, das die Ordnung aufrecht erhält. Ausbrüche weisen auf Schwachstellen hin, beleben das System. Selbst nicht integrierbare Formen wie der Terrorismus können seine Macht stärken.
Was tun? Ausgerechnet in einem Gespräch über den rechten Protest, wie er etwa in der sogenannten identitären Bewegung zum Ausdruck kommt, wird wieder auf die Kraft von positiven Visionen hingewiesen. Doch die «menschlichere Utopie» muss anschaulich sein, wenigstens im Kleinen «eine andere, bessere und attraktivere soziale Praxis» zeigen. In rationalem Austausch einen verbindlichen Konsens zu finden, wäre das Ziel derartiger Demokratiemodelle. Klaus Schönberger, der an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt wirkt, erwartet allerdings keine Wunder: «Das wird die Rechtsextremen und Nazis nicht zu einem Umdenken bewegen, ihnen aber den gesellschaftlichen Resonanzboden entziehen.»

 

 

 

Gegen das politische Burnout

Wichtig dazu das Postulat von Timo Luth­mann: «Politisch aktiv sein und bleiben». Er hat in seinem Handbuch primär den inneren Zustand der Linken im Blick. Das von ihm gesuchte «Konzept des Nachhaltigen Aktivismus» verwendet den Begriff der Nachhaltigkeit weniger im Sinn allgemein sozial-ökologischer Politik, obwohl das auch seine Zielrichtung ist. Es geht ihm um Beständigkeit der Bewegungen, für die das meist leise Verschwinden vieler einst Aktiver eine Schwächung bedeutet, die kaum je thematisiert wird. Nicht selten stehen wachsende Zweifel an der Wirksamkeit politischer Arbeit, ja tiefste Verzweiflung dahinter, bis hin zum persönlichen Burnout. Wer kümmert sich um solche Menschen? Wie wäre die Erosion zu vermeiden? Gefragt wird zum Beispiel nach dem Umgang mit den schlicht zu vielen, insbesondere negativen Informationen, die uns alle belasten, deprimieren. Auch die Überforderung in überaktiven Gruppen, lähmende Strukturen oder hinter fehlenden Strukturen verborgene Hierarchien sind Themen.
Der ländlich-katholisch sozialisierte, heute dem Anarchismus zuneigende Autor bringt eigene Erfahrungen ein. Zuerst fast bekenntnishaft, damit aber auch erhellend, später sorgfältiger dosiert. Aktiv ist er aktuell vor allem in einem international vernetzten Klima-Bündnis, seine stärkste Basis scheint die Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union zu sein, eine alternative Gewerkschaftsföderation mit anarchosyndikalistischer Tradition. Bei den im politischen Raum gern ausgeblendeten Fragen nach dem Umgang miteinander sind auffallend viele feministische Stimmen zu finden. Von der klassischen Linken zieht er alte Beispiele solidarischer, speziell genossenschaftlicher Strukturen bei, benennt jedoch die Defizite. Es dominiert ein materialistisches Weltbild, das Ideal der vernünftig eingerichteten Gesellschaft sei «sehr kopf- und logiklastig, was eine Stärke und Schwäche zugleich ist». Von weniger Konformen kommt scharfe Ideologiekritik; wenn es um emotionale Probleme geht, verstummen die Helden. Luthmann schätzt nüchtern ein, was in der Regel von einer Gruppe erwarten kann, wer in politischen oder privaten Krisenphasen persönlichen Halt benötigt. Eher wenig bis nichts. Da setzt denn auch sein Plädoyer für mehr Sorgfalt und Verbindlichkeit an. Was er an Schritten in dieser Richtung anregt, wäre wohl nicht nur in der aktivistischen Szene des Nachdenkens wert. Verschwinden in Gewerkschafts- und Parteisektionen nicht Kollegen und Genossinnen zuhauf? Für die ebenso unerlässliche Eigenfürsorge reicht das Spektrum seiner Vorschläge von einfachen Atemübungen über Yoga bis zu diversen Formen der Meditation. Körper wie Seele stärken könne auch das Sein und Tun nicht nur für die, sondern in der Natur. Hier wird das Handbuch mit detaillierten Hinweisen zur Zecken-Prophylaxe fast belustigend konkret. Aber die Bemühungen um kollektive Resilienz bleiben im Zentrum.
Es tauchen anspruchsvolle Begriffe wie Aufmerksamkeitsökologie, Befreiungspsychologie, sogar Psychobiologie auf, ebenso werden bescheiden wirkende Alltagsrituale erläutert. Bei den präsentierten Ansätzen sticht ein hoher Anteil von US-amerikanischen Theorien und Praktiken ins Auge, auch von buddhistischen Traditionen. Wiederholt wird Thich Nhat Hanh zitiert, ein früh friedensbewegter Mönch aus Vietnam. Daneben Dorothee Sölle, die radikal evangelische Theologin. Andern gebe «eine Art säkulare oder weltliche Spiritualität» den nötigen Rückhalt; ganz ohne geht es kaum. «Freiheit muss achtsam geplant werden», damit wir uns nicht völlig in der zunehmend komplexeren Welt verlieren. Und zu dieser Freiheit gehört genug freie Zeit sowie Ruhe und Raum für sich selbst. Vielleicht ist das gerade jetzt, wenn nach den Ferien rundum volles Engagement gefragt ist, die wichtigste Botschaft dieser Produktion des Unrast-Verlages.

 

Aus dem Wortschatz der NZZ

Für mich war «Unrast» einst als Wort eng mit der ‹Neuen Zürcher Zeitung› verbunden. Besonders um 1968 herum verwendeten dort distanzierte Kommentatoren, die es neben den redaktionellen Hetzern vom Dienst durchaus gab, den Begriff auffallend oft: Unrast der Studenten, Unrast der Jugend – von wem auch immer. Sie wurde nie ganz für voll genommen, war aber nicht mehr völlig zu ignorieren. Schön, dass nun ein nach eigenem Bekunden «aus den Neuen Sozialen Bewegungen der 80er Jahre» heraus gewachsenes, nach wie vor erfreulich lebendiges Kollektivunternehmen «in der Bischofsmetropole Münster» diesen Namen trägt.
Sein aktuelles Angebot propagiert es mit ‹Bücher der Kritik› als Slogan. Unter anderem findet sich dort ein übersetztes Gespräch mit Noam Chomsky. Der seit über 50 Jahren unermüdliche Kapitalismus-Katastropen-Analyst geht darin auch auf Trump ein, bleibt aber Optimist. Fast möchte ich ihn den Jean Ziegler der USA nennen. Titel: «Zuversicht in Zeiten des Zerfalls». Schnell gelesen ist ein «Erneuter Versuch über die Befreiung», den eine «Selbsthilfegruppe» mit Kürzel SEK vorlegt. Allein die Biographien der Diskutierenden sind ein Manifest: mehrheitlich DDR-Sozialisation, schon dort querdenkend links und entsprechend gemassregelt, aber weiterhin dabei, wenn es um «die emanzipatorische Überwindung des Kapitalismus» geht. Ernst, doch nicht tierisch. Mit feiner Ironie wird als SEK-Suchobjekt das «Ei des Kommunismus» angegeben.

 

Protest! Widerstand im Plakat. Ausstellung im Museum für Gestaltung Zürich, Toni-Areal. Nur noch bis zum 2. September 2018!

 

Protest. Eine Zukunftspraxis. Herausgeber: Zürcher Hochschule der Künste / Museum für Gestaltung. Lars Müller Publishers, Zürich 2018, 448 Seiten mit 320 Bilder, 29 Franken.

 

Timo Luthmann: Politisch aktiv sein und bleiben. Handbuch Nachhaltiger Aktivismus. Unrast, Münster 2018, 422 Seiten, 19.80 Euro. Mehr zum Verlagsprogramm: www.unrast-verlag.de.

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