Auf den Spuren des Trotzkismus

Die zweite Ausgabe der Zeitschrift «Aether» widmet sich den Nachlässen und Archiven von Schweizer TrotzkistInnen während des Kalten Krieges. Die Dokumente beleuchten die Geschichte eines Aktivismus, der in Vergessenheit geraten ist. Ab heute ist die Zeitschrift online abrufbar.

 

Zara Zatti

 

Im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich und im Schweizerischen Sozialarchiv liegen zahlreiche noch unerschlossene Archivbestände verborgen. Im Rahmen eines Forschungsseminars der Historischen Fakultät der Universität Zürich stiegen Studierende in die Tiefen dieser Archive und suchten in den grauen Schachteln nach Spuren von trotzkistischem Aktivismus in der Schweiz während des Kalten Krieges. Dabei stiessen sie unter anderem auf die Nachlässe von Hans Stierlin, Gründer der Kühlschrank-Firma Sibir, oder von Publizist und späterem SP-Politiker Heinrich Buchbinder. Die Erkenntnisse aus den Archiven wurden ergänzt durch Erinnerungen und Erzählungen von ehemaligen TrotzkistInnen. Die Artikel zu verschiedenen Einflussbereichen der TrotzkistInnen sind ab heute online abrufbar.
Der Trotzkismus in der Schweiz ist geprägt durch viele Umbrüche und konnte sich im politischen Tagesgeschehen schlussendlich nicht durchsetzen. Die Bewegung spielte in den 50er- und 60er-Jahren aber eine wichtige Rolle für linke Projekte, so war sie beispielsweise Hauptakteurin im Kampf gegen die atomare Aufrüstung der Schweiz 1960.
Der Begriff Trotzkismus stammt vom bolschewistischen Politiker Leo Trotzki. Nach dem Tod Lenins 1924 kam es zum Zerwürfnis zwischen Trotzki und Stalin: Während Stalin den Erfolg des Sozialismus auch unabhängig vom Rest der Welt für möglich hielt, war Trotzki überzeugt von einer internationalen Revolution. Die trotzkistische Bewegung wurde in der Sowjetunion, aber auch im Ausland bis aufs Blut verfolgt: Zahlreiche AnhängerInnen, so 1940 auch Trotzki selbst, wurden vom stalinistischen Regime ermordet.
In der Nachkriegszeit wurde der Trotzkismus in vielen Ländern zu einer bedeutenden Kraft der Linken. Dabei vertrat die Bewegung zwar die kommunistischen Ideale, distanzierte sich aber gleichzeitig von der stalinistischen Politik, wie etwa dem imperialen Vorgehen in Osteuropa, was den Dialog zu gemässigteren linken Kreisen in verschiedenen Ländern vereinfachte.

 

Trotzkismus in der Schweiz
Die trotzkistische Bewegung in der Schweiz reicht bis in die 1930er-Jahre zurück. Ausgehend von der trotzkistisch geprägten Opposition innerhalb der «Kommunistischen Partei der Schweiz» (KPS) bildete sich 1933 die «Marxistische Aktion der Schweiz» (MAS). Bis 1945 musste sich die MAS aufgrund von internen Auseinandersetzungen, aber auch wegen Inhaftierungen zwei weitere Male neu formieren. 1945 brachte die «Partei der Arbeit» (PdA), welche sich zunehmend von der sowjetischen Aussenpolitik abwandte, die Zeitschrift ‹Proletarische Aktion› heraus. Aufgrund des antistalinistischen Konsenses, beteiligte sich die MAS an der Publikation der Zeitschrift und gründete 1946 gar eine Organisation unter gleichem Namen: Die «Proletarische Aktion» (PA). Viele Mitglieder der PdA liefen zur PA über, deren Erfolg aber bereits 1948 wieder stagnierte. Fünf Jahre später bildeten die TrotzkistInnen den «Sozialistischen Arbeiterbund» (SAB), welcher eine Alternative zu SP und PdA bieten sollte. Der SAB war es dann auch, der sich mit der Unabhängigkeitsbewegung in Algerien solidarisierte und sich für die «Gründung der Schweizerischen Bewegung gegen die atomare Aufrüstung» engagierte. Doch auch der SAB und damit der organisierte Trotzkismus in der Schweiz verlor bis 1969 stark an Einfluss.
Ein Teil der französischen Partei der Arbeit, der «Parti Ouvrier Populaire», kurz POP, der sich in einem geheimen Lesezirkel mit Schriften von Leo Trotzki befasste, wurde aus der Partei ausgeschlossen, es entstand die «Revolutionäre Marxistische Liga» (RML), die als trotzkistisch galt. Die RML zählte um 1970 über 1000 Mitglieder und beschäftigte sich besonders stark mit Friedens- und Umweltfragen, setzte sich aber auch mit den Gewerkschaften und dem Feminismus auseinander. 1980 in «Sozialistische Arbeiterpartei» (SAP) unbenannt, löste sich die RML langsam auf und der Schweizer Trotzkismus verschwand als klare Organisation wieder von der Bildfläche.

 

Hans Stierlins «eiskalte Revolution»
Obwohl sich die politische Bewegung der TrotzkistInnen nicht in einer konstanten Organisation durchsetzen konnte, hatten einzelne Akteure oder Aktionen der Bewegung doch einen prägenden Einfluss. Ein Beispiel dafür ist Hans Stierlin, der langjährige Chef der Kühlschrank-Firma Sibir. Hans Stierlin war seit seiner Jugend überzeugter Trotzkist und gehörte zum Kern des Sozialistischen Arbeiterbundes (SAB). Der Forschungsingenieur Stierlin leitete mit der Erfindung eines geräuschlosen und kostengünstigen Kühlschranks eine «eiskalte Revolution» ein: Der Kühlschrank mutierte von einem Luxusprodukt zum Standard in den Schweizer Haushalten und wurde in den 50er-Jahren zum Verkaufsschlager.
Doch nicht nur sein Kühlschrank war revolutionär, sondern auch die Unternehmenskultur in seiner Firma Sibir. Dabei war diese stets geprägt von einem Widerspruch: Einerseits vertrat Stierlin eine antikapitalistische Haltung, war aber mit seinem Millionenunternehmen in genau diese Strukturen eingebunden und von ihnen abhängig. Nicolas Hermann suchte im Nachlass von Stierlin nach Hinweisen, wonach dieser seine Firma als mikropolitisches Handlungsfeld nutzte und politische Ideen in seine Unternehmensführung einliessen liess. Anzeichen dafür gibt es durchaus: So beschäftigte Stierlin etwa verschiedene Linke, die es sonst vor dem Hintergrund des herrschenden Antikommunismus schwer gehabt hätten, eine Anstellung zu finden, führte einen Einheitslohn ein oder bereits 1971 die 40-Stunden-Woche, welche erst zwei Jahre später von den Gewerkschaften gefordert wurde.
Der Nachlass von Hans Stierlin ist seit 2016 im Archiv für Zeitgeschichte zugänglich. Nur ein kleiner Teil davon umfasst seine politische Aktivität. Wie Nicolas Hermann schreibt, muss man diese Tatsache auch vor dem Hintergrund der damaligen Zeit betrachten. So bildete sich nach dem Zweiten Weltkrieg etwa die antikommunistische Organisation NIZ (Nationales Informationszentrum), welches Schmähkampagnen gegen linke Organisationen und AkteurInnen durchführte. Das NIZ drohte auch Stierlin mit einer solchen Kampagne in seiner Zeitschrift ‹Bulletin›, da dieser ein Sibir-Inserat in einer linken Westschweizer Zeitschrift platzierte. Insofern erstaunt es nicht, dass Stierlin sich mit politischen Äusserungen zurückhalten musste, wollte er das Unternehmen weiterhin erfolgreich führen.

 

Online-Zugriff der Artikel: www.aether.ethz.ch

 

Gedruckte Version erhältlich unter: intercomverlag.ch/shop/

 

Buch-Vernissage am 6. Dezember um 18 Uhr im Archiv für Zeitgeschichte, Hirschengraben 62, Zürich.

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