Als Zürich pro Jahr 4,3 Millionen Spritzen verteilte

Zürichs Vergangenheit als Hotspot für Drogenabhängige liegt bereits einiges an Zeit zurück. Was heute in deutlich kleinerem und geordnetem Rahmen vonstattengeht, hat an Sichtbarkeit verloren. Die Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich organisierte Stadtführungen, um die Ereignisse in den Köpfen der ZürcherInnen zu bewahren. Vergangenen Donnerstag fand die letzte statt.

 

Julian Büchler

 

Das 30-jährige Bestehen feierte die Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich im April 2015. Dem Jubiläum folgte ein Themenjahr unter dem Motto «Sucht im Wandel der Zeit». Die Präventionsstelle ist überzeugt: Sucht ist und bleibt präsent in unserer Gesellschaft. Verändert hat sich die Haltung der Menschen und verändert haben sich ihre Erscheinungsformen. Zürich wurde seit den 80er-Jahren eng mit dem Drogenthema verknüpft. Dieses noch relativ junge Kapitel städtischer Drogengeschichte wurde im Rahmen des Rundganges «Von der Riviera zum Letten: Auf den Spuren der Suchtprävention» anhand einprägsamer Schauplätze von damals in Erinnerung gerufen – auch um die Entwicklung und die heutige Lage aufzuzeigen. «Wir haben bemerkt, dass durch die erfolgreiche Drogenpolitik der Stadt die Suchtproblematik zunehmend aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwand, sagt Urs Rohr von der Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich. Bei den jährlichen Umfragen der Stadt zu den drängendsten Problemen der Bevölkerung tauchten in den 90er-Jahren und um die Jahrtausendwende Drogen und Suchtproblematik auf den obersten Plätzen auf. Heute sei dies ein anderes Bild, wie Urs Rohr aufzeigt. Dies steht im Widerspruch dazu, dass die Stadt auch heute das Zuhause von vielen Süchtigen ist. Die Sichtbarkeit ist drastisch zurückgegangen und folglich auch nicht mehr so störend für die Gesellschaft. «Wir sind der Überzeugung, dass das grundlegende Suchtproblem damit aber nicht gelöst ist», so Urs Rohr weiter.

 

Zürich als Drogenhotspot der 90er

Ein Beispiel dafür ist der Platzspitz, welcher einer der Hauptstationen des Rundgangs darstellte. So idyllisch der Park hinter dem Landesmuseum heute erscheint, ab 1986 entwickelte er sich zur Drogenhölle, der bald den Übernamen ‹Needle Park› erhielt. Die Geschehnisse der anfänglich überschaubaren Drogenszene, die die Behörden zu kontrollierten glaubten und sie deswegen auch gewähren liessen, hatten sich bald herumgesprochen. Widersprüchlich ausgeführte Gesetze und die Nähe zum Hauptbahnhof liess den Park bald zu einem internationalen Hotspot für Süchtige aus ganz Europa werden, der Zürich international in die Schlagzeilen brachte. Neben den Drogen verschlimmerten übertragbare Krankheiten, allen voran Aids, den Zustand der Süchtigen massiv. Heute gehen Suchtmediziner davon aus, dass mehr als ein Drittel aller FixerInnen sich mit dem Virus infizierten. Dies unter anderem auch, weil sich der Kantonsarzt lange Zeit gegen die Abgabe von sterilen Spritzen aussprach. Als er seine Meinung 1986 ändert, werden im Folgenden mehr als 4,3 Millionen Spritzen pro Jahr verteilt.

 

Der von ‹Stattreisen› im Auftrag der Suchtprävention geleitete Rundgang führt unter anderem auch zum Letten, einem Symbol der gescheiterten politischen Massnahmen bei der Schliessung des Platzspitzes. Obwohl die Stadt eine geordnete Schliessung ansteuerte, kam ihr der kantonale Statthalter zuvor. Dass ein Ausstieg aus der Sucht keine einfache Sache ist, zeigte sich am Letten deutlich – auf dem stillgelegten Bahnhof flussabwärts setzte sich das Elend fort.

 

Alkohol als sozialisierendes Element

Das Argument, dass die Süchtigen aufgrund mangelnder Selbstdiszi-
plin selber für ihr Elend verantwortlich sind und die öffentliche Hand Brandherde wie den Platzspitz ohne ausreichende Massnahmen schliessen könne, teilt Urs Rohr nicht. Dass Menschen eine Sucht entwickeln, komme nicht von ungefähr. «Alkohol beispielsweise hat in unserer Gesellschaft einen sozialisierenden Charakter.» Er kenne niemanden, der an seiner Hochzeit keine alkoholischen Getränke ausschütte oder am Stammtisch kein Feierabendbier trinke. Er sieht Handlungsbedarf bezüglich des Bildes, das unsere Gesellschaft legalen und illegalen Drogen zuschreibt. «In unserer heutigen Leistungsgesellschaft wird der Eindruck vermittelt, für Erfolg, Attraktivität und Fitness auf manipulative Substanzen angewiesen zu sein.» Dies fange bei Anabolika zur Förderung des Muskelaufbaus an und gehe bis zu konzentrationserhöhenden Substanzen im Managementbereich. Dem Individuum werde regelrecht eingeredet, dass in der heutigen Leistungsgesellschaft nur besteht, wer sich optimiere und pushe, was die Suchtgefahr erheblich verstärkt.

 

Im Hintergrund fand glücklicherweise ein Umdenken statt. Um der offenen Drogenszene ein Ende zu setzen, genehmigte der Bund 1992 erstmals die legale Abgabe von Heroin. Die staatliche Abgabe war und ist bis heute Teil der ausgearbeiteten Vier-Säulen-Strategie ‹Prävention, Therapie, Schadensminderung & Repression›. Am Rundgang erinnerte der Stopp an der Röntgenstrasse 44 die Teilnehmenden an die damals geschaffene Suchtpräventionsstelle, welche die Suchtentwicklung präventiv verhindern sollte. Urs Rohrer betont, dass es neben dem Engagement seitens der Suchtpräventionsstelle auch ein Umdenken in der Gesellschaft braucht. Es werde in unserer Gesellschaft immer Süchtige geben. «Auch Süchtige haben ein Recht darauf, in Zürich zu wohnen». Die Frage stelle sich nicht, ob wir Süchtige gut oder schlecht finden, sondern wie wir verhindern, dass Neue dazukommen und wie wir den Bestehenden einen adäquaten Umgang ermöglichen.

 

Unlogische Drogenpolitik

In der Schweiz hat sich die Vier-Säulen-Strategie national durchgesetzt. Polizei, Drogenhilfe und Prävention arbeiten enger zusammen und ziehen mehr oder weniger am gleichen Strang. Das Drogentestlabor an der Konradstrasse ist ein Paradebeispiel dafür. KonsumentInnen können ihren Stoff testen lassen, ohne dass die Polizei vor dem Gebäude patrouilliert – im Gegenzug besteht seitens des Testlabors eine Meldepflicht von Personen mit Verdacht auf Dealen. Urs Rohr sieht trotzdem noch Handlungsbedarf. «Die aktuelle Drogenpolitik ist alles andere als logisch. Dass Cannabis – eine Substanz, die erwiesenermassen nicht gefährlicher ist als Alkohol – als Droge kriminalisiert wird, aber kürzlich in Bern beschlossen wurde, das Verkaufsverbot von Alkohol an Autobahnraststätten aufzuheben, ist paradox und nicht im Sinne einer lösungsorientierten Drogenpolitik.»

 

‹Stattreisen› selbst wird den Rundgang für Interessierte weiterführen. Die Suchtpräventionsstelle konzentriert sich vermehrt auf zielpublikumsbezogene Projekte wie neue, bessere Programme zur Aufklärung in den Schulen. Ihren Auftrag zu erfüllen habe viel mit unspektakulärer Hintergrundarbeit zu tun. Hinzu komme, dass mit der Verbesserung der Lage in den Jahren auch das Budget immer kleiner geworden sei – grosse Aktionen, die es auf die Titelseiten der Zeitungen schaffen, werden somit eher ausbleiben.

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