«Ich hatte Glück, engagierte Menschen zu treffen»

Hüseyin Büyüktas studiert an der ZHdK. Dass er nach seiner Flucht in die Schweiz eine Ausbildung machen kann, die seinem Potenzial entspricht, hat er seiner Entschlossenheit und engagierten DozentInnen zu verdanken. Vorgesehen ist ‹Integration› via Hochschule nicht.

 

Von Manuela Zeller

 

«Ich könnte natürlich auch im Royal Döner arbeiten», erklärt Hüseyin Büyüktas schulterzuckend, «aber ein Leben ohne Kunst, das kann ich mir nicht vorstellen». Er wolle Ideen entwickeln, etwas schaffen. «Ich hatte herumgefragt, wie ich hier in der Schweiz als Kunstlehrer fussfassen kann. Mir wurde abgeraten.» Als Geflüchteter in der Schweiz mit Kunst arbeiten, sei unmöglich, hörte der ausgebildete Kunstlehrer von allen Seiten.

 

Sein Diplom hatte Hüseyin Büyüktas in der Türkei gemacht. In Anatolien hatte er ein vierjähriges Studium absolviert. Der Abschluss berechtigt ihn, Kindern und Jugendlichen aller Schulstufen bildnerisches Gestalten zu vermitteln – in der Türkei. Dort konnte er allerdings nicht bleiben. Nach seinem ersten Jahr als Kunstlehrer musste er das Land verlassen, «wegen politischen Problemen», erklärt der Kurde mit dem türkischen Pass. Gemeinsam mit seiner Frau und zwei Kindern flüchtete er in die Schweiz.

 

Auf die Ankunft in der Schweiz folgte das lange Warten. «Es dauerte vier Jahre bis zum Asylentscheid, in der Zeit konnte ich gar nichts machen» – Wie macht man das, vier Jahre lang nichts machen? – «Ich habe viel mit meinen Kindern gespielt. Aber arbeiten oder eine Ausbildung, das war nicht möglich. Und in unserer Wohnung hat’s auch kaum genug Platz, um Kunst zu machen, höchstens Skizzen». Mit dem B-Ausweis kam die Frage nach der Integration in den Arbeitsmarkt. Sein türkisches Lehrerdiplom ist in der Schweiz nicht anerkannt. Um auch hier als Lehrer arbeiten zu können, ist eine Aus-, bzw. Weiterbildung nötig.

 

Integration via Hochschule nicht vorgesehen

 

Integration via Hochschulstudium, das hat der Verband der Schweizer Studierendenschaften (VSS) mit einer Studie gezeigt, ist in der Schweiz nicht vorgesehen. Im Gegenteil. Im Januar hat der VSS ein Positionspapier veröffentlicht, welches die Resultate der Studie und die daraus abgeleiteten Forderungen zusammenfasst. Das Dokument macht deutlich, dass Geflüchtete in der Schweiz mit unverhältnismässig hohen Hürden konfrontiert sind, wenn sie sich an einer Hochschule aus- oder weiterbilden wollen: Zunächst fehlt es an Orientierung im Informationsdschungel. Die Betroffenen haben Mühe, sich eine Übersicht über Möglichkeiten, Zulassungsbedingungen und Auflagen zu verschaffen. Und sie haben Mühe, die Zulassungsbedingungen zu erfüllen: Die Sprachanforderungen für Geflüchtete sind teils strenger als für fremdsprachige Studierende aus dem Inland und den meisten europäischen Ländern, ausserdem fehlt es an bezahlbaren Sprachkursen auf angemessenem Niveau. Ausländische Vorbildung wird von Schweizer Hochschulen oft nicht anerkannt, eine Maturäquivalenzprüfung als alternative Möglichkeit ist kosten- und zeitintensiv. Sowieso reisst sich niemand darum, die Kosten für ein Hochschulstudium zu übernehmen. Die sozialen Dienste, so der VSS, sehen sich oft nicht in der Lage, eine Hochschulausbildung zu finanzieren. Es fehle an Budget, würde moniert. Kurzfristig günstiger wäre die Integration in einen minderqualifizierten Job. Fazit: Hochschulbildung als Integrationsweg ist in der Schweiz weiterhin nicht vorgesehen.

 

Hüseyin Büyüktas wollte sich davon nicht abhalten lassen. Den entscheidenden Tipp bekam er schliesslich vom Berufsinformationszentrum (BIZ): Er solle direkt an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) nachfragen, ob es für ihn eine Möglichkeit gäbe. Hüseyin Büyüktas hatte Glück: An der ZHdK war die Bereitschaft zu helfen gross.

 

Unbürokratische Massnahmen

 

2015, als in Deutschland gerade die Willkommenskultur ausgerufen wurde, hatten sich auch ZHdK-Angehörige mobilisiert, um sich innerhalb der Kunsthochschule für Geflüchtete zu engagieren. Daraus bildete sich eine Arbeitsgruppe aus Studierenden, Dozierenden und Mitarbeitenden aus der Administration. Das Ziel: Angebote für Geflüchtete ausarbeiten. Möglichst pragmatisch, barrierefrei und schnell.

 

Die Voraussetzungen für die Arbeitsgruppe seien gut gewesen, erklärt David Keller. Er leitet die ‹Internationalen Beziehungen› der ZHdK und koordiniert die Angebote für Geflüchtete. Dozierende und Studierende hätten viel Initiative gezeigt, schon bevor es die Arbeitsgruppe gab. «Dozierende hatten von sich aus Schnuppersemester und Hospitanzen eingerichtet.» Meistens seien es Studierende oder die Dozierenden selbst gewesen, die zum Beispiel einen Zeichnungslehrer aus Syrien gekannt hätten und nach einer Möglichkeit an der Kunsthochschule suchten. «So sind informell und unbürokratisch Schnuppersemester und Hospitanzen entstanden». Die Arbeitsgruppe habe diese Angebote dann noch formalisiert. Ausserdem wurde durch eine Umfrage mit Zürcher Asylorganisationen festgestellt, welche weiteren Bedürfnisse es seitens der Geflüchteten gibt.

 

So sind schliesslich vier konkrete Angebote entstanden. Sie werden von einer Anlaufstelle der ZHdK koordiniert, wo sich Geflüchtete melden und sich orientieren können. Seit dem Frühlingssemester 2016 werden Schnuppersemester und Hospitanzen angeboten. Schnuppersemester für jene, die auf Grund ihrer Flucht das Kunststudium abbrechen mussten oder gar nicht erst beginnen konnten, und Hospitanzen für ausgebildete Kunstschaffende. Das Schnuppersemester soll Studieninteressierten Einblick in das Studium und die Anforderungen geben, ausserdem die Möglichkeit, sich auf das Aufnahmeverfahren vorzubereiten. Die Hospitanz ist eher darauf ausgerichtet, dass Kunstschaffende den Schweizer Kunstbetrieb kennenlernen und sich vernetzen können. Ausserdem hilft ein Orientierungsverfahren geflüchteten, professionellen Kunst- und Designschaffenden, mehr über ihre Möglichkeiten und Perspektiven für eine Tätigkeit in der Schweiz herauszufinden. Und schliesslich stellt die Hochschule während den Semesterferien Räume auf dem Campus zur Verfügung, damit Angehörige der ZHdK Projekte mit Geflüchteten organisieren können. Auch weiterhin sind die Angebote dezentral organisiert, die Departemente bleiben relativ autonom. Die Arbeitsgruppe hätte sich auch dagegen entschieden, ein Mentoring-Programm für die Geflüchteten festzuschreiben, erklärt David Keller. «Wir haben gemerkt, dass sich die Studierenden und Dozierenden von sich aus sehr engagiert um die ‹Neuen› kümmern, Aufgaben zu verteilen, war gar nicht notwendig.»

 

Massgeschneiderte Studieninhalte

 

So hatte auch Hüseyin Büyüktas viel Unterstützung bekommen, als er schliesslich an die Tür des Bachelor-Studiengangs «Art Education» klopfte. Dessen Leiter, Peter Truniger, nahm sich dem Fall an. «Mir ist es einerseits wichtig, dass Geflüchtete eine Chance bekommen, und andererseits finde ich den Austausch sehr wertvoll», erklärt der Spezialist für Vermittlung in den Bereichen Kunst und Design. «Wir haben uns gemeinsam seine Unterlagen angeschaut. Was den praktischen Teil angeht, hatte Hüseyin in der Türkei schon sehr viel gemacht. Im dreidimensionalen Gestalten ist er eigentlich ein Meister». Dafür fehlten noch Module in der Vermittlung und deutsches Fachvokabular. Hüseyin Büyüktas und Peter Truniger vereinbarten, dass der türkische Kunstlehrer eine Hospitanz im Bereich der Vermittlung machen könne. Mit Zugang zu den Werkstätten, genau wie die regulären Studierenden. «Wir haben uns dafür entschieden, dass Hüseyin ein Semester lang Praxismodule macht, um die Sprache besser zu lernen, danach würden wir weiterschauen.»

 

Das war im Sommer 2016. Ein halbes Jahr später fühlt sich Hüseyin Büyüktas zuhause an der ZHdK. «Das Toni-Areal ist wie ein Labyrinth», lacht er, inzwischen finde er sich aber problemlos zurecht. Auch der Unterricht fühlte sich zu Beginn ungewohnt an. «In der ersten Woche habe ich einen meiner Dozenten für einen Studenten gehalten. Wir hatten etwa eine halbe Stunde lang zusammen geredet, ehe mir mein Irrtum aufgefallen ist». An der Kunstschule in der Türkei wären die Dozenten leichter zu erkennen gewesen, weil sie sich viel stärker von den Studierenden abgegrenzt hätten. «Sie standen vorne und redeten kaum mit den Studentinnen und Studenten». Der türkische Kunstlehrer mag die freundschaftliche Atmosphäre. «Hier sind die Tische im Kreis angeordnet, wir sehen uns ins Gesicht. In der Türkei waren die Tische nach vorne ausgerichtet, so dass man jeweils nur die Hinterköpfe der anderen anschauen konnte.» Und er schätzt seine gestalterische Freiheit. «An meiner alten Kunsthochschule mussten wir Modelle nachzeichnen oder modellieren, alle StudentInnen das gleiche Modell, und wehe, jemand wagte ein gestalterisches Experiment. Hier müssen wir uns die Aufgaben selber stellen, das braucht viel mehr Kreativität». Die Anforderung, ständig eigene Ideen entwickeln zu müssen, lässt Studierende bisweilen verzweifeln – Hüseyin Büyüktas geniesst die Freiheit. «Für die Sachen, die ich hier mache, hätte ich an meiner früheren Schule Ärger bekommen».

 

Zukunft in der Erwachsenenbildung

 

Ende Herbstsemester, nach Ablauf der Hospitanz, wurde Hüseyin Büyüktas nach einem strengen Verfahren, also gemäss den üblichen Zulassungsbedingungen, in den Bachelor aufgenommen. Gemeinsam mit Peter Truniger hat er sich seine Module zusammengestellt. «Manche Leistungen aus seinem Studium in der Türkei können wir anrechnen», erklärt der Studiengangsleiter, «so dass er vor allem noch theoretische Fächer studieren muss: Vermittlung etwa und Kunstgeschichte». Die beiden haben abgemacht, vorerst die Vertiefung ‹Ästhetische Bildung und Soziokultur› anzustreben, damit wäre Hüseyin Büyüktas schon in zwei Jahren qualifiziert, künstlerische Projekte anzuleiten. Ein Experiment für beide Seiten. «Wenn er will, kann er später noch einen Master machen, der ihn dann dazu befähigen würde, an Schulen zu unterrichten».

 

Hüseyin Büyüktas und Peter Truniger konnten die zuständige Person im Departement Soziales der Stadt Winterthur überzeugen, dass zwei Jahre ZHdK ein sinnvoller Beitrag zur Integration in den Arbeitsmarkt sind. Der frisch immatrikulierte Bachelorstudent freut sich. Wenn er von Bekannten gefragt wird, wie man es schaffe, in der Schweiz zu einem Studium zugelassen zu werden, rät er, beharrlich nach Möglichkeiten zu suchen. «Ich hatte aber einfach auch Glück, so engagierte Menschen zu treffen».

 

Von «Glück» spricht auch Martina von Arx vom VSS. Erfolgsgeschichten wie jene von Hüseyin Büyüktas seien leider (noch) Einzelfälle. Geflüchtete, die nicht überdurchschnittlich motiviert und talentiert seien, würden es kaum an Schweizer Hochschulen schaffen. Allerdings sei noch nicht einmal bekannt, wie viele Geflüchtete in der Schweiz überhaupt Wunsch und Potenzial haben, zu studieren, da entsprechende Informationen im Asylverfahren nicht erhoben würden. «Die Behörden haben wenig Interesse daran, die Situation der Geflüchteten zu verbessern».

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